Britta Kallin, Keiko Nakagome

Internationale Perspektiven auf Jelinek und Gender

Fragen zur Ästhetik

 

Gibt es in Ihrem Land ein öffentliches Bedürfnis, sich mit dem Thema ästhetisch auseinanderzusetzen, etwa durch KünstlerInnen, Autorinnen?

Britta Kallin

Ja, dieses Bedürfnis gibt es auf jeden Fall. Das Konzept Gender wurde im 20. Jahrhundert ausführlich von Künstler_innen und Autor_innen untersucht und wird auch im 21. Jahrhundert weiterhin auf verschiedenste Arten und Weisen unter die Lupe genommen. Es gibt eine lange Liste von Büchern, Performances, Theaterstücken, Filmen, Fotografien, Skulpturen etc., die sich mit dem Thema Gender auseinandersetzen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen, kann man folgende aufzählen:

The Rocky Horror Picture Show (1975), Kate Bornsteins Hidden: A Gender (1990), Eve Enslers Vagina-Monologe (als One-Woman Show, Musical und Film), die Diskussionen über das weibliche Geschlechtsteil und die veraltete Tabuisierung desselben auslösten, Hedwig and the Angry Inch (2001), Southern Comfort (Dokumentarfilm 2000, Kate Davis; Musical 2016, Dan Collins), die Komödie Transamerica (2005), Kinky Boots (2013), die Fernsehsendung Transparent (2014), Orange is the New Black (2015), Figuren in Star Wars/Krieg der Sterne-Verfilmungen und der kürzlich erschienene Film The Danish Girl (2016), in dem es um eine der ersten medizinischen Geschlechterumwandlung von einem Mann zu einer Frau geht. Es gibt eine Reihe von Romanen sowie Kinder- und Jugendliteratur, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen wie beispielsweise Kristin Elizabeth Clarks Freak Boy (2013), Brie Spenglers Beast (2016), Meredith Russos If I was your Girl (2016), Jessica Hertels I am Jazz (2016) über die/den erste/n Transgender Teen Jazz Jennings, die/der im Rampenlicht der US-Medien steht. Mariette Pathy Allen ist eine bekannte Fotografin, die Ausstellungen über ihre Werke zu Transgender Paaren macht. Es gibt auch öffentliche Wettkämpfe wie der Wettbewerb „Transnation Queen“ (2016), wo die eine herausragende Transgender Person gewählt wird.

Yayoi Kusama: Louis Vuitton shop window display with Tentacles, 2012/2015. Hans GA, CC-BY-SA 2.0

Keiko Nakagome

Hoffentlich verstehe ich Ihren Satzteil „ein öffentliches Bedürfnis, sich mit dem Thema ästhetisch auseinanderzusetzen“ richtig. Ist „ein öffentliches Bedürfnis“ von der Seite des Volk im Allgemeinen? Und heißt „mit dem Thema“  mit dem Thema Geschlecht? Wenn, dann: Als die bedeutendste avantgardistische Künstlerin der Nachkriegszeit muss man/ ich den Namen von Yayoi KUSAMA (*1929) nennen. Sie wurde am 3. November 2016 mit dem Bunka Kunsho (= der maximale Orden für kulturelle Verdienste in Japan) ausgezeichnet. Bis Kusama in solcher Weise von dem Staat anerkannt wurde, hat sie von Kind an unter ihrer Krankheit, unter ihrer altmodischen, disziplinierten Mutter und unter der japanischen Kunstwelt der Nachkriegszeit, die von patriarchal gesinnten Künstlern besetzt wurde, gelitten. Während ihres Aufenthaltes in New York 1957-1973 musste sie selbst für ihren Unterhalt sorgen, weil sie keine finanzielle Unterstützung von ihrer Familie hatte. Kusama hat sich dort nicht nur mit der Punkt- und Netz-Malerei (Dot-Paintings) und Installationen, in denen sie auch unzählige Phalli malte, beschäftigt, sondern auch mit den radikalen Performances bzw. Happenings, bis sie bekannter wurde. Außerdem hat sie einen Film gedreht, in dem sie selbst auch als Darstellerin fungiert. Der Film heißt Das Erlöschen der Kusama selbst (1968). Nachdem sie nach dem Tod ihres Partners Joseph Cornell nach Japan zurück gekehrt ist, schrieb sie 14 Erzählungen, einen Gedichtband und ihre Autobiographie. Seit 1990 beschäftigt sie sich wieder mit ihrer künstlerischen Tätigkeit. Die Punkt-Malerei soll Kusama nach ein Ritual dafür sein, sich selbst vor den Halluzinationen der Kindheit zu beschützen. Außerdem möchte ich noch die avangardische Künstlerin Yoko Ono erwähnen, die sich zusammen mit ihrem Mann, John Lennon mit dem Widerstand auseinandergesetzt hat und damit zur Hoffnung auf den Weltfrieden beiträgt.

Was japanische AutorInnen betrifft, äußern auch Männer, dass die japanische Literatur oft weiblich eingestellt ist. Zum Beispiel, sagt man, dass der Autor Junnichiro TANIZAKI (1886-1965) in seinem langen Roman Sasameyuki (1944-1948) (The Makimura Sisters ist der Titel der englischen Ausgabe) die Frauen sehr ästhetisch beschrieben hat. Die Modelle sind vier Frauen, die seine dritte Frau und ihre drei Schwestern sind. Er hat sie sehr respektiert. Übrigens war Tanizaki als einer der letzten fünf Kandidaten des Nobelpreises im Jahr 1960 und auch 1964 nominiert, aber er starb leider vor der Verleihung. Heutzutage schreiben Autorinnen oft über die Frauen in ihrer Umgebung als Modelle aus einem weiblichen Blick. Und Männer schreiben in den Romanen auch oft über Frauen aus dem männlichen Blick. Vielleicht haben Frauen mehr Probleme als Männer in einer patriarchalisch gesinnten Familie und Gesellschaft zu leben.

In welche Richtung haben sich die Kategorien Gender und Sex Ihrer Meinung nach in Jelineks jüngeren Texten entwickelt und wie wirkt sich das auf die Sprechinstanz aus?

Britta Kallin

Jelinek war und ist ihrer Zeit voraus und hat die Kategorien Gender und Sex seit ihren frühesten Veröffentlichungen untersucht. Insbesondere untersucht Jelinek in ihren Texten immer die schon lang existierenden gesellschaftlichen und sexuell definierten Rollen von Männern und Frauen und die damit einhergehenden Machtpositionen im Miteinander, wenn sie z.B. in die Texte von Aischylos, Sophokles, Aristophanes, Euripides und anderen griechischen Dramen zurückgreift. Die Rollen der damaligen Frauenfiguren werden in Jelineks Texten als Ausgangspunkt für die Analyse der jetzigen (zum Teil noch ähnlichen) Vorstellungen von Gender benutzt, um den Zuschauer_innen die Augen für die Situation von Frauen heute und damals zu öffnen. Die Sprechinstanz verändert sich nicht nach den Kategorien Gender und Sex, sondern die Sprechinstanz von Jelineks untoten Frauen ermöglicht vielen ihrer Frauenfiguren, über Gender und Sex zu philosophieren und die Rolle von Gender und Sex in ihren eigenen Leben besser zu beschreiben.

Keiko Nakagome

Mir fällt es schwer, auf die Frage über die Entwicklung der Kategorien Gender und Sex in Jelineks jüngeren Texten zu antworten, weil sie nicht nur die klassischen Werke dekonstruiert, sondern sie auch lebt und schreibt, von den furchtbaren Ereignissen in unserer gegenwärtigen hypermodernen Welt beeinflusst und künstlerisch inspiriert. Diesbezüglich äußerte sie in einer E-Mail an mich Ende des Jahres 2004, dass sie seit damals frei von allen Kritiken schreibt, wie sie will. Ich bin mir sicher, dass sie aus mindestens zwei Motivationen schreibt, einerseits aus Humanismus und andererseits als Vertreterin der Schuldgefühle gegenüber den Opfern des Zweiten Weltkrieges. Zum Beispiel könnten wir aus dem weiblichen bzw. männlichen Blick aus Sicht der Gender Studies die Männer und Frauen in Die Schutzbefohlenen untersuchen. Auf der anderen Seite, sollten wir die sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen (in der Gegenwart und NS-Zeit) genderspezifisch problematisieren. Aber darüber hinaus scheint es mir auch, dass ihr das Schuldproblem ihres Landes seit der NS-Zeit das Herz immer noch schwermacht – ein Aspekt, der nicht vergessen werden kann und der in die Richtung der Kategorien Gender und Sex in ihren Texten hinweist, wie sie es in Ich als Toten-Ausgräberin (2010), dem Vorwort für die japanische Übersetzung von Die Kinder der Toten, beschreibt. Dürfte ich hier eine Passage zitieren?:

Da ich die Untoten immer schon als Metapher für die österreichische Geschichte gesehen habe, eine eben: gespenstische Geschichte, die, obwohl das oft gefordert wurde und immer noch wird, je mehr Zeit vergeht, desto unschuldiger mit diesem: „Es muß endlich einmal Schluß sein!“, nie enden, nie sterben kann, weil sie sich immer wieder durch die Schutthalden nach oben arbeitet (denn überall, wo man gräbt, ragen die Knochen aus dem Boden heraus), war es für mich immer klar, daß ich, sozusagen als mein Hauptwerk, in dem alles kulminieren würde, was ich literarisch schaffen wollte, einen Gespensterroman schreiben würde. Ich habe immer schon gerne Gespenstergeschichten gelesen, und ich werde vielleicht nur noch Gespenstergeschichten schreiben. Dieses Auftauchen der Toten, denen man ihr Leben gestohlen hat, diese Zombiehafte des Landes, (...).[1]

Zu dem reichhaltigen Themenbereich von Elfriede Jelinek gehört auch Ökonomie und Gender und dementsprechend kann man ihren Theatertext FaustIn und out. Sekundärdrama zu Urfaust (2011) kurz erwähnen. In meiner Abhandlung (2012) habe ich von Anfang an von der Bedeutung von „in-and-out“ bestätigt: 1. Sex, 2. Aktien kurzfristig wiederholt zu kaufen und zu verkaufen, 3. wiederholend auszugehen und hineinzugehen, 4. inkonsequent zu sein. In der Tat ist die Hauptdarstellerin FaustIn das Opfer des Missbrauchs von ihrem Vater. FaustIn spricht nicht nur als Gretchen (Margarete), sondern auch wie Faust (Heinrich) und Sie könnte auch eine Geistin sein. Die armen Frauen haben keine Zukunft, weil sie kein Kapital besitzen, wenn nur das Kapital die Arbeit bedeutet. In diesem Theatertext geschieht sozusagen alles Mögliches. Diese Erscheinung spiegelt den typischen postmodernen Charakter wider. In diesem Punkt zeigt sich, meiner Meinung nach, die neue Perspektive des Diskurses Geschlecht.

Gibt es in der Literatur bzw. im Theater Ihres Landes genderspezifische „VerUneindeutigungen“, wie sie bei Jelinek etwa in Form von „Doppelgeschöpfen“ (Krankheit oder Moderne Frauen, Die Straße. Die Stadt. Der Überfall) auftreten und wie werden diese rezipiert?

Britta Kallin

Ja, es gibt eine Reihe von „VerUneindeutigungen“ und „Doppelgeschöpfen“, die sich gleichzeitig als Männer und als Frauen bzw. als nach traditionellen, binären Gender-Modellen undefinierbar verhalten.

Theater spielt in den USA eine ganz andere gesellschaftliche Rolle als in Europa. Anders als in Deutschland werden die Theater in den USA nicht so wie in Deutschland und Österreich finanziell durch Steuergelder unterstützt. Das Theater spielt in der gesellschaftlichen Entwicklung und in der Literaturgeschichte der USA eine andere Rolle als in Europa, wo das Theater als eine der wichtigen Bildungsinstitutionen gesehen wird. Dennoch gibt es eine Reihe von Stücken, die auf amerikanischen Bühnen wichtige gesellschaftliche Entwicklungen beeinflusst und kommentiert haben so wie z.B. die Stücke von Tennessee Williams und Edward Albee, aber auch Tony Kushners Angels in America: A Gay Fantasia on National Themes (1993) hat die Theaterlandschaft der USA stark beeinflusst. Doug Wrights I am My Own Wife (2003) basiert auf der Lebensgeschichte der Transvestitin Charlotte von Mahlsdorf. Das Theaterstück Fun Home (2006) basiert auf der Lebensgeschichte von Alison Bechdel, die selbst als Lesbe lebt und ihre Kindheit mit ihrem schwulen Vater beschreibt, der jedoch als heterosexueller Familienvater lebte und starb, ohne seine Homosexualität öffentlich zu machen.

Keiko Nakagome

Das Doppelgeschöpf aus Krankheit oder Moderne Frauen besteht aus zwei Frauen, Emily und Carmilla, die als siamesische Zwillinge in ein gemeinsames Kostüm eingenäht sind, damit kann man auf die Kugelmenschen bei Platon eingehen, aber es bedeutet vielmehr „eine Art Mißbildung in der Erscheinung“, wie Ute Nyssen es in ihrem Nachwort über das ideal Wesen der Frau als Mutter äußert: „Die Frau als selbstbestimmter Mensch tritt nur als eine Art Mißbildung in Erscheinung und zu spät, um geschichtsbildend wirken zu können: die Welt ist bereits verwüstet und ein solches Wesen muß beseitigt  werden.“[2] Soweit ich weiß, gibt es keine genderspezifischen „VerUneindeutigungen“ oder „Doppelgeschöpfe“ in der Literatur bzw. im Theater unseres Landes. In dem Kabuki Theater spielen seit ca. 300 Jahren nur Männer, auch die weiblichen Figuren. In dem Noh Theater dürfen seit dem zweiten Weltkrieg auch wenige Frauen spielen.

Der Schriftsteller Yasutaka TSUTSUI (*1934) hat eine sogenannte SF-Liebesgeschichte Das Mädchen, das durch die Zeit läuft geschrieben. Die High School Schülerin liebt einen Kameraden. Als sie von der Treppe herunter fällt, merkt die Schülerin, dass ihr eigener Körper den Platz des Kameraden eingenommen hat und dass der andere Partner umgekehrt den Platz des Mädchens genommen hat. Die Erzählung ist in den 60er Jahren verfilmt worden und war damals sehr beliebt. Seitdem wurde die Geschichte zwei Mal für das TV Programm wiederholt. Dieses Jahr ist der Animationsfilm Dein Name? im Kino. Diese „Parallelwelt“-Liebesgeschichte ist gerade in Mode. Eine Figur lebt in einer möglichen Welt und begegnet dort einigen Personen und sein/ihr Leben entwickelt sich glücklich oder unglücklich, je nach den Umgebungen bzw. den Mitmenschen.

 

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  • Britta Kallin promovierte in Germanistik an der Universität von Cincinnati. Seit 2000 arbeitet sie an der School of Modern Languages des Georgia Institute of Technology, seit 2008 als Associate Professor of German. Spezialisiert auf zeitgenössische deutsche und österreichische Frauenliteratur und Theater. Autorin u.a. von The Representation of Roma in Elfriede Jelinek’s „Stecken, Stab und Stangl“, Marlene Streeruwitz's Novel „Nachwelt“ as Postmodern Feminist Biography sowie Die Feder führ ich unermüdlich. Helmina von Chezy's „Rosamunde“ as Intertext in Elfriede Jelinek's „Der Tod und das Mädchen III (Rosamunde)“.
  • Keiko Nakagome Studium der Germanistik und der Philosophie. Seit 2012 Professorin für Germanistik an der Daito-Bunka Universität, Tokyo. Buchveröffentlichung: Gender und Literatur. Blicke von Bachmann, Wolf und Jelinek (1996). Übersetzungen aus dem Deutschen u.a. von Kassandra und Vier Vorlesungen von Christa Wolf, Die Klavierspielerin, Lust (mit Rita Briel), Der Tod und das Mädchen I-V (Prinzessinnendramen), Das Lebewohl und zuletzt, gemeinsam mit Kazuko Okamoto und Tzuneo Sunag, Die Kinder der Toten von Elfriede Jelinek. Mitglied des Internationalen Forschungsgremiums des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums, Internationale Partnerin der Forschungsplattform Elfriede Jelinek.

Anmerkungen


[1] Jelinek, Elfriede: Ich als Toten-Ausgräberin. Vorwort für die japanische Ausgabe von Die Kinder der Toten (Jelinek, Elfriede: Shisha no Kodomotachi. Tokio: Choeisha 2010.), erschienen in: Janke, Pia (Hg.): JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek-Forschungszentrum 2012, S. 17-19, S. 18.

[2] Nyssen, Ute: Nachwort. In: Jelinek, Elfriede: Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 266-285, S. 284.