Britta Kallin, Keiko Nakagome

Internationale Perspektiven auf Jelinek und Gender

Fragen zur Politik

 

Elfriede Jelineks neuere Texte sind zum großen Teil im Kontext wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge rezipiert worden. Haben Sie den Eindruck, dass sie sich weniger mit Geschlechterfragen auseinandersetzen bzw. dass Globalisierung und Kapitalismus Geschlechterfragen obsolet machen?

Britta Kallin

Elfriede Jelinek setzt sich auch in ihren neueren Texten mit Geschlechterfragen auseinander und die Globalisierung und die Eigenschaften des kapitalistischen Systems hängen gerade bei Jelinek eng mit Vorstellungen von Gender zusammen. Jelinek hat sich z.B. in den Prinzessinnendramen, in Neid, Rechnitz, in FaustIn and Out sowie in Rein Gold intensiv mit Geschlechterfragen auseinandergesetzt. Diese Texte machen Geschlechterfragen auf keinen Fall obsolet, sondern stellen die Frage nach Recht, Macht und Privilegien von Männern und Frauen in den Kontext der wirtschaftlichen und politischen Systeme, in denen wir leben.

Keiko Nakagome

Nein, ich habe nicht diesen Eindruck, wie er hier beschrieben wird. Elfriede Jelinek hat sich immer einerseits mit dem Schaffen der literarischen Texte, aber andererseits auch mit dem Schreiben der kritischen Texte beschäftigt, um diesen Diskurs bzw. die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und der Politik zu bewirken. Bevor ihr der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde, hat sie unter den unbegründeten Angriffen sehr gelitten. Aber sie hat mir (für einen Zeitungsartikel) damals geschrieben, dass sie von nun an freiwillig ohne Angst weiter schreiben würde. Deshalb schreibt Elfriede Jelinek auch über die Geschlechterfragen im Kontext wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge, heutzutage hauptsächlich in den Theatertexten, die sie wahrscheinlich als die freiere Form oft wählt. Zum Beispiel behandelt sie den gleichen Stoff des Inzest-Falls Amstetten als Geschlechterfrage durch die männliche Gewalt in Abraumhalde und in FaustIn and out. Natürlich enthalten diese Geschlechterfragen eine etwas andere Komponenten als bei Die Klavierspielerin, wo es sich hauptsächlich um das Literarisieren der Vermännlichung handelt. In „FaustIn and out“ erinnert uns z.B. der Name Margarete an den der Figur in Goethes Werk Urfaust und gleichzeitig an den Namen in Celans Gedicht Die Todesfuge. Celan schreibt am Ende des Gedichtes „dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith“. Das heißt, die Autorin weist die Leser auf den diachronischen Zusammenhang hin, was die Unterdrückung der Frauen durch ihre Herrscher betrifft. Darüber hinaus verursachen Globalisierung und Kapitalismus auch die Unterdrückung der Frauen erneut. Übrigens vergisst Elfriede Jelinek auch nie das Thema der Unterdrückung der Juden, wie sie uns etwa auch in ihrem längsten Roman Die Kinder der Toten und in ihrem Vorwort für die Übersetzung ins Japanisch hinweist. Ebenso in ihren neuen Texten, wie z.B.: in Wut.

Welchen Stellenwert haben Ihrer Meinung nach Fragen bzw. Themen betreffend Geschlechtergerechtigkeit in Ihrem Land? Gibt es dafür eine öffentliche Plattform des Austauschs?

Britta Kallin

In den USA haben Diskussionen zu Themen und Fragen hinsichtlich Geschlechtergerechtigkeit einen sehr großen Stellenwert. Die frühe Frauenbewegung, der Kampf um das Frauenwahlrecht, die Bürgerrechtsbewegung und die darauffolgende Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre sowie andere gesellschaftliche Entwicklungen haben den Weg für mehr Gerechtigkeit für Frauen aber auch für verschiedene Rassen bzw. Ethnien in den USA geebnet. Der Kampf gegen die Sklaverei und die allmähliche Aufhebung von institutionellem Rassismus sind eng mit den Errungenschaften der verschiedenen Frauenbewegungen verbunden. Besonders die weißen Frauen der Mittelschicht und Oberschicht haben lange gebraucht, um auch die Bedürfnisse der Arbeiterschichten und der diskriminierten Afro-Amerikaner und anderer ethnischer Minderheiten in Betracht zu ziehen. Danach wurden dann Kollaborationen mit anderen unterdrückten Gruppen erarbeitet, die über leere Solidaritätsbekundungen hinausgehen, sondern bei denen tatsächlich ein Austausch über Lebensbedingungen und Erfahrungen entsteht, der die Kluft zwischen den verschiedenen Minoritäten überbrückt. Organisationen wie die UNO, USAID, Reactor (Research in Action) sind in den USA entstanden bzw. wurden mitbegründet und nicht unterbunden und die Verteilung von finanziellen Mitteln wie beim Crowdfunding wurde ermöglicht, um die Rechte der Frauen und Zugang zu Bildung, Finanzen und politischer Mitbestimmung weltweit zu unterstützen und zu verbessern.

Eine öffentliche Plattform für eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Geschlechtergerechtigkeit ist einerseits das Fernsehen sowie das Internet als dominante Medien aber auch die Zeitungen, Zeitschriften, Pamphlete, Bücher, etc. die im Druck die Debatten mit beeinflussen. So gab es beispielsweise eine wichtige Diskussion im Jahr 2015-2016 um die Rechte von Transgender Männern und Frauen und was für ein Zugang zu öffentlichen und Schultoiletten ihnen gestattet werden sollte. Die Debatte um Transgender Personen ist sicherlich eine der wichtigsten Bürgerrechtsinitiativen des noch jungen 21. Jahrhunderts. Immer mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene beschreiben sich selbst als bigender, transgender, genderqueer, cisgender etc. und passen nicht mehr in die binären und überholten Vorstellungen von Mann und Frau. Die Transgender Erfahrungen und Erwartungen an unsere Gesellschaften werden in Zeitungen und in anderen Medien diskutiert und debattiert.

Als eine andere Plattform gibt es die #BlackLivesMatter Bewegung, deren verschiedenen lokale Gruppen sich immer wieder auch der Situation von Frauen, besonders der Situation von afro-amerikanischen Frauen, zukehren, da sie am intensivsten von Unterdrückung und Diskriminierung betroffen sind.

Die Präsidentschaftswahl 2016 war eine andere Plattform, auf der die Kandidatin Hillary Clinton und der designierte Präsident Donald Trump einen Austausch über die Rechte von Frauen und Mädchen in der politischen Mitbestimmung und in der Führungsrolle des Landes spielten. Darin ging es auch um die sexuell aggressive Rolle des Mannes, die Donald Trump den Männern zuspricht, und um die passive Rolle der Frau, deren Verfügung über ihren eigenen Körper hinsichtlich Abtreibung eventuell in der kommenden Regierung unter den amerikanischen Republikanern per Rechtsprechung wieder eingeschränkt werden könnte.

Keiko Nakagome

Die Fragestellung betreffend Geschlechtergerechtigkeit ist in unserem Land unerlässlich. Das zeigt etwa das Verhältnis der Anzahl der weiblichen Abgeordneten im Vergleich mit den männlichen Abgeordneten in Japan. Das durchschnittliche Verhältnis weiblicher Abgeordnete ist international 22.6%, aber Japan steht mit 9,5% von den 192 Ländern an der 157. Stelle [1]. Warum ist Japan so auffallend zurückgeblieben, was die Themen der Geschlechtergerechtigkeit betrifft? Das hängt mit der Reform der tiefen Verinnerlichung des patriarchalen Bewusstseins der Männer zusammen. Weil auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Männer in der Regierung sehr lange die Oberhand behalten haben, wurde es für das Volk fast selbstverständlich, dass die Politik, die Wirtschaft und die Gesellschaft im Allgemeinen Domänen der Männer sind. So schreibt Mari MIURA, die eine der Verfasserinnen von dem Buch Die weiblichen Abgeordneten in Japan (2016). Heutzutage muss man in Japan Politik, Gesetz, Wirtschaft, Wissenschaft, Pädagogik und das gesellschaftliche Leben im Allgemeinen, Ehe und Arbeitsweise auch aus der Perspektive der Frauen begreifen, um die Spuren der patriarchalen Gedanken aufzuheben. Bis heute bleiben diese tief eingedrückten Spuren hartnäckig bei den Männern, meiner Meinung nach fast unbewusst. Besonders bei den Angestellten, die in den Firmen arbeiten, entsteht das Bewusstsein, das sie den Firmen stärker gehören als ihren Familien, wie die Analyse von Chizuko UENO und Kiriu MINASHITA festgestellt hat (Ich bin nicht verheiratet. Also was?! Verlag Business, 2015). Wenn verheiratete Frauen als „high-performer“ an den Universitäten oder in den Kliniken arbeiten, müssen sie zu Hause trotzdem allein den Haushalt und die Erziehung erledigen. In diesem Fall müssen die Frauen doppelt so viel wie ihre Männer arbeiten, die bis spät in die Nacht in den Firmen bleiben.

Auch die folgende Beobachtung kann man aus gendertheoretischer Sicht überprüfen: Es gibt viele Firmen, deren Organisation und Personen in führenden Positionen immer noch sehr patriarchalisch sind. Letztes Jahr hat eine junge Frau, die auf der besten Universität von Japan graduiert hatte und bei einer großen Werbeagentur angestellt war, wegen Überarbeiten Selbstmord begangen. Eine Woche lang hatte sie nur ein paar Stunden geschlafen, weil sie so viel gearbeitet hat. Dabei half kein Kollege und ihr Chef ignorierte sie. Solche Firmen nennt man hier „black enterprises“, wo jüngere Angestellte leicht unter „power harasment“ leiden müssen. In dieser Werbeagentur starb bereits vor drei Jahren ein Angestellter an „Karohshi“, wegen Überarbeiten. Erst nach den Ereignissen der Todesfälle reagierte die Regierung und die betreffende Behörde darauf und verstrengerte die Gesetze.

In dem globalen Gender-Gap Index von WEF 2015 steht Japan auf Rang 101 unter den 145 Ländern, das stellt den letzten Rang unter den G7 dar. [2] Folglich wurden die Fragen bzw. Themen betreffend Geschlechtergerechtigkeit wichtige Aufgabe des Staates und traten in den Vordergrund der Politik bzw. Wirtschaft. Die Bewegungen der Förderung der Aktivität von Frauen werden sehr lebhaft in unserem Land. Diese Richtung steht unter dem Einfluss von globalen Aktivitäten. Meiner Meinung nach braucht man für die Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit auch in unserem Land noch lange Zeit, weil ich die Möglichkeit nicht verneinen kann, dass der Blick der patriarchalisch eingestellten Politiker die für Frauen unerlässlichen Verbesserungen leicht übersieht.

Seit dem Jahr 2000 vergrößert sich die Anzahl der weiblichen Abgeordneten. Aber zuerst wurden sie meistens aus Intention der damaligen Premierminister gewählt, den Empfehlungen der Vereinten Nationen zu entsprechen und vor allem aus politischer Strategie, die Stimmen ihrer weiblichen Wählerschaft zu vermehren. Deshalb waren die weiblichen Abgeordneten, die von den Premierministern als Kandidatinnen gewählt wurden, oft nur Mittel zum Zweck der Popularitätssteigerung. Andererseits gibt es auch weibliche Abgeordneten, die Subjektivität haben und ihren Blick bewusst auf Genderfragen richten. Das Problem ist, dass der Premierminister die Zahl der Frauen innerhalb seines Regierungskabinettes immer auf zwei bis fünf beschränkt, damit die Männer die Mehrheit haben können und dass sich die gewählten weiblichen Ministerinnen dabei häufig als Komplizinnen (im Sinne von Jelineks Texten) für das patriarchalische System verhalten. Dieser Status quo ist ganz anders als in Ländern wie Norwegen, Kanada oder Neuseeland. Seit 1999 bleibt das Grundgesetz für die gemeinschaftliche Beteiligung der Frauen mit den Männern in Kraft, aber der Ministerpräsident und die anderen männlichen Mitglieder haben in der Tat immer die Macht über alles. In Japan wollen nur wenige Befähigte und Intelligente Abgeordnete werden.

Öffentliche Organisationen bzw. Plattformen des Austausches sind:
1. Q no Kai: Der Verband zur Förderung des Quotensystems: https://www.facebook.com/quota.japan/
2. NPO Körperschaft : WAN Women’s Action Network  https://wan.or.jp/wan

Wie definieren die in Ihrem Land dominierenden Diskurse Geschlecht und wie viel Raum geben sie dem Anderssein und der Subversion bestehender Muster?

Britta Kallin

Die Diskurse um Geschlecht können m.E. ohne Intersektionalität nicht mehr in Betracht gezogen werden. D.h. wir können uns Gender nicht alleinstehend als Identitätscharakteristikum anschauen, sondern sollten Gender als eine von vielen Identitäts-Markers sehen. Die intersektionalen Beziehungen zu Rasse bzw. Ethnizität, Klasse oder Schicht, Herkunft, Behinderung, Religion und geschlechtlicher Orientierung sind eine Reihe der Faktoren, die unsere Identitäten mit beeinflussen. In den Queer Studies der USA gibt es Versuche, diese Identitäts-Markers nicht länger als nebeneinander stehende Säulen zu sehen, sondern als sich vernetzende Gruppe von Faktoren, die nicht separat untersucht und beschrieben werden können, sondern die untrennbar voneinander in einem steten Miteinander als Assemblage (Jasbir Puar) verbunden sind, da sich diese Identitäten im ständigen Austausch und Wandel befinden.

Die Subversion bestehender Muster spielt eine große Rolle für die Entwicklung des demokratischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens in den USA. Die Erfolge der Bewegungen für die soziale Anerkennung und das Absprechen krimineller Tendenzen von Homosexualität und Transsexualität haben in den USA in den letzten Jahrzehnten großen Zuspruch erhalten und haben viele Errungenschaften zu verzeichnen. Während die weiße Frauenbewegung der Mittelschicht sich am Ende des 20. Jahrhunderts noch von Homosexuellen distanzierte, gab es schon lange durch Proteste wie Stonewall 1969 ein öffentliches Interesse an denen, die sich von bestehenden Geschlechterrollen-Mustern distanzieren wollten. Desweiteren gibt es in den USA eine lange Tradition von Drag Shows, die von RuPaul und anderen Künstler_innen popularisiert wurden, und es gibt viele Transsexuellen Clubs und Organisation

Keiko Nakagome

In der feministischen Wissenschaft ist die Verwendung der wesentlichen Begriffe sowie der Definitionen von Sex/Gender/Sexuality und dessen Dekonstruktion schon längst selbstverständlich geworden. Weil viele Bücher von Judith Butler, Michel Foucault und Jacques Derrida ins Japanische übersetzt worden sind, haben viele JapanerInnen auch Interesse an dem Diskurs der Queer Theory und kennen das Wort „LGBT“. In den TV Varieté-Programmen gibt es einige intelligente Homosexuelle und diese sind sehr beliebt. Was die Homosexualität und die lesbische Liebe betrifft, darf man zwar nicht heiraten, aber in dem Stadtteil Shibuya in Tokyo kann man zumindest eine Partnerschaft offiziell anmelden und damit einige gesetzmäßige Privilegien erhalten. Für mehr Rechte von Homosexuellen wird regelmäßig demonstriert, um damit das herrschende gesellschaftliche Vorbild innerhalb Tokyos zu subversieren.

 

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  • Britta Kallin promovierte in Germanistik an der Universität von Cincinnati. Seit 2000 arbeitet sie an der School of Modern Languages des Georgia Institute of Technology, seit 2008 als Associate Professor of German. Spezialisiert auf zeitgenössische deutsche und österreichische Frauenliteratur und Theater. Autorin u.a. von The Representation of Roma in Elfriede Jelinek’s „Stecken, Stab und Stangl“, Marlene Streeruwitz's Novel „Nachwelt“ as Postmodern Feminist Biography sowie Die Feder führ ich unermüdlich. Helmina von Chezy's „Rosamunde“ as Intertext in Elfriede Jelinek's „Der Tod und das Mädchen III (Rosamunde)“.
  • Keiko Nakagome Studium der Germanistik und der Philosophie. Seit 2012 Professorin für Germanistik an der Daito-Bunka Universität, Tokyo. Buchveröffentlichung: Gender und Literatur. Blicke von Bachmann, Wolf und Jelinek (1996). Übersetzungen aus dem Deutschen u.a. von Kassandra und Vier Vorlesungen von Christa Wolf, Die Klavierspielerin, Lust (mit Rita Briel), Der Tod und das Mädchen I-V (Prinzessinnendramen), Das Lebewohl und zuletzt, gemeinsam mit Kazuko Okamoto und Tzuneo Sunag, Die Kinder der Toten von Elfriede Jelinek. Mitglied des Internationalen Forschungsgremiums des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums, Internationale Partnerin der Forschungsplattform Elfriede Jelinek.

Anmerkungen


[1] Vgl.: N. N.: Women in national parliament. http://www.ipu.org/wmn-e/arc/classif010116.htm (20.12.2016) (= Website der Inter-Parliamentary Union)

[2] Vgl.: N. N.: The Global Gender Gap Report 2015. http://reports.weforum.org/global-gender-gap-report-2015/ (20.12.2016) (= Website des World Economic Forum).