Bettina Mathes & Christian Schenkermayr

„Andre Jungfrauen für andre, diese für mich allein“

Glaube, Ökonomie und Geschlecht in Abraumhalde. Ein E-Mail-Wechsel

 

Betreff: Mailwechsel zu Jelineks Abraumhalde
Von: Christian Schenkermayr
Datum: 3.2.2017
An: Bettina Mathes

Sehr geehrte Frau Mathes,
bei jeder Lektüre von Elfriede Jelineks Abraumhalde stößt man als LeserIn auf neue Facetten, die man bislang nicht oder nur partiell wahrgenommen hat. Insbesondere liegt dies an der Vielfalt der divergierenden Stimmen, die im Text in Erscheinung treten. Als „Sekundärdrama“ zu Lessings Nathan der Weise konzipiert, greift Abraumhalde einerseits auf Figuren und Problemfelder von Lessings „dramatischem Gedicht“ zurück, geht aber weit darüber hinaus: die Stimmen Nathans, Dajas, des Tempelritters und des Patriarchen, die Ringparabel und das ihr inhärente Spannungsfeld von Gold und Glaubenseifer an den Schnittstellen von Judentum, Christentum und Islam überlagern sich u.a. mit antiken Mythen und dem sogenannten „Inzestfall von Amstetten“. In der Stimmenvielfalt des Textes werden also sowohl religiöse, ökonomische, politische und genderspezifische Aspekte miteinander verschränkt. Soweit mal ein erster Überblick über das thematische Spektrum, das wir im Rahmen unseres Mailwechsels näher in Augenschein nehmen wollen.

Detail aus: Meister der Lucialegende: Virgo inter Virgines, um 1500

Meister der Lucialegende: Virgo inter virgines, um 1500 zeigt Jungfrau Maria inmitten weiterer jungfräulicher Heiliger

Eine Sequenz, in der die Zusammenhänge zwischen Glaube, Ökonomie und Geschlecht bereits auf den ersten Seiten von Abraumhalde problematisiert werden, ist der religionsübergreifende Blick auf den Begriff der „Jungfrau“. Ausgehend vom Motiv des brennenden Hauses und der Kreuzzugsthematik im Nathan kommt es zu einer Engführung unterschiedlicher religiöser Martyriums und Erlösungsvorstellungen, bei denen Projektionen von der Jungfrau Maria und der 72 Jungfrauen im muslimischen Paradies miteinander überblendet werden („sie ist nämlich auch noch Mutter, die hl. Jungfrau, und dafür könnten wir ich-weiß-nicht-wieviele Jungfrauen […] bekommen, hätten wir nur die richtige Religon“[1]). Hier klingt erstmals etwas an, das uns im weiteren Verlauf des Textes immer wieder begegnen wird: Der Wert eines Glaubenssystems wird auf frappante Weise mit dem weiblichen Körper in Bezug gesetzt. Durch die Gegenüberstellung der Jungfrauen, „welche dort im Keller lagern wie im Paradies“[2] wird auch bereits auf den Fall Fritzl verwiesen. Die kulturelle Verortung der Frauenbilder wie auch jene der patriarchalen Machtinstanzen wird dabei jedenfalls bewusst in der Schwebe gehalten: „vor grausigen Zeiten ein Mann im Osten, oder war es Westen?“[3].
Liebe Grüße
Christian Schenkermayr

Betreff: Re: Mailwechsel zu Jelineks Abraumhalde
Von:
Bettina Mathes
Datum: 5.2.2017
An: Christian Schenkermayr

Lieber Christian,
danke daß Sie den Anfang gemacht und die Bühne bereitet haben. Ich will etwas persönlicher antworten.
Wie immer nach der Lektüre von einem Text von Elfriede Jelinek ist mir auch diesmal erstmal richtig schlecht geworden. Nach zwei Seiten schon keine Lust mehr zum Weiterlesen. Es ist zum Kotzen und das macht mich aggressiv und ärgerlich: Muss das denn sein! Den ganzen Müll aufwühlen...
Aber irgendwie lese ich doch weiter. Denn es stimmt ja, Jelinek hat ja recht: das Leben, in dem wir uns eingerichtet haben, ist, wenn man genau hinhört, zum Kotzen. Nicht nur für Frauen, aber für Frauen besonders.
Wir haben uns angewöhnt, alles fein säuberlich zu trennen: den Müll natürlich, der Umwelt zuliebe; aber auch die Ökonomie von der Religion, das Geschlecht von der Politik, die Familie von der Gewalt, die Vergangenheit von der Gegenwart, Himmel von Hölle, Hostie von Münze, unten von oben. So schützen wir uns davor, daß uns andauernd schlecht wird. Den Hörschaden nehmen wir in Kauf. Und genau das läßt Jelinek uns nicht durchgehen. Wieder und wieder zeigt sie uns: Geld Geschlecht Religion sind miteinander verwoben so wie die Ornamente (teils moslemischer Provenienz) auf dem Schleier der Jungfrau Maria. Geld ist Schrift (ein Zeichensystem) und Geld ist Religion (ohne Glauben an das Geld, verliert das Geld seinen Wert). Geld ist Gottvater, Geld macht sexy und im Geldfluss pflanzen wir uns fort – rein symbolisch, jungfräulich wenn man so will (Schriftzeichen gebiert Schriftzeichen, Zins gebiert Zinseszins), aber mit realen Auswirkungen. In diesem christlich geprägten Glaubenssystem (im Islam funktioniert das Geld etwas anders), wird der weibliche Körper zur Münze, die Männer unter sich tauschen, und zum Ort, an dem sich der dem Kapitalismus eingeschriebene Inzestgedanke verwirklicht. Historisch gesehen ist die Schamgrenze zum Vater-Tochter Inzest in Deutschland und Österreich besonders niedrig. Im Fall Fritzl hat eine ganze Stadt 24 Jahre (zweimal so lang wie das zwöl Jahre währende Tausendjährige Reich) nichts von den Verbrechen bemerkt haben wollen. Schwer vorstellbar, sage ich aus meiner sicheren Distanz. Wie konnte der Vater dieses grausame Doppelleben aufrechterhalten, ohne aufzufallen? Wie konnte er „oben” und „unten” so säuberlich trennen? Aber gucken und hören wir nicht alle weg, Tag für Tag? „Jeder will etwas sagen, aber hören will nie einer.”[4]
Das Aufeinanderverwiesensein von Geld, Religion und Jungfräulichkeitsgedanke ist kein Geheimnis. Die Sprache legt es offen: Erlös, Kredit, Gläubiger. Das alte Gottvertrauen ist auf das Geldvertrauen übergegangen. Und wie vermehrt sich das Geld? Durch sich selbst, quasi jungfräulich. Im alten Griechenland, wo die Münze erfunden wurde, benutzte man ein und dasselbe Wort für Zins und für Kind. Zinseszins sind Kindeskinder. Das Joseph Fritzl das gewusst hat, als er ganz selbstverständlich seine Tochter vergewaltigte und mit ihr Kinder zeugte, ist unwahrscheinlich; daß eine ganze Stadt es nicht gewusst haben will, spricht für tiefe, sehr tiefe Abspaltungsprozesse.  
Die Macht des Geldes beruht u.a. darauf, daß wir ihm buchstäblich nicht entkommen können. „Die Schrift des Geldes lernen wir auswendig, bevor wir überhaupt lesen können, damit wir wenigstens eine Schrift haben, wenn wir nichts zum Schreiben bei uns haben“[5], schreibt Jelinek. Und die Macht der Sprache beruht darauf, daß sie, anders als das Geld, Alles aufbewahrt: das Wertvolle und den Müll.

„Ich glaub man muss nicht mal brechen.“[6] Alptraumhalde.

Betreff: Re: Mailwechsel zu Jelineks Abraumhalde
Von:
Christian Schenkermayr
Datum: 9.2.2017
An: Bettina Mathes

Liebe Bettina,
vielen Dank für das äußerst treffende Bild von der diskursiven „Mülltrennung“, die auf Jelineks Abraumhalde nicht mehr möglich ist, weil sie eben auch in realiter nichts anderes ist als eine Fülle von Konstrukten, die zur Beruhigung, Verschleierung und der Unterdrückung von Brechreiz über die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Machtverhältnisse dienen.
Was auf Jelineks Abraumhalde allerdings sehr wohl möglich (und nicht selten unumgänglich) ist, ist eine radikale und substanzielle Umwertung der scheinbar festgefügten Wertmaßstäbe und Wechselkurse an den Schnittstellen von Geld, Geschlecht und Religion. Überdeutlich wird das am Bild der drei Ringe, die ja bekanntlich bei Lessing für die drei monotheistischen Weltreligionen stehen, deren Wert aber damals schon nicht mehr eindeutig festzumachen war und nur im friedlichen Wettstreit immer aufs Neue zu eruieren sei. Hält man sich aber die millionenfachen Morde an Juden im Nationalsozialismus und die Opfer der gegenwärtigen blutigen Konflikte zwischen Juden, Christen und Muslimen im Nahen Osten vor Augen, erscheint hier eine grundlegende Neubewertung erforderlich. Die „Menschen im Osten“, die bei Jelinek „nichts von unschätzbarem Wert aus lieber Hand besaßen“[7] und stattdessen nur Krieg kriegen, müssen letztendlich auch ihre Eheringe abgeben. Das Gold ist zum Raubgold geworden.
Ganz ähnlich verhält es sich auch mit den Schriften Gottes und des Geldes. Denn ein entscheidender Faktor für die Bemessung des Wertes der „heiligen“ Schriften ist hier weitgehend abhandengekommen, nämlich jener der Wahrheit. Den schon bei Lessing angestellten Vergleich zwischen Geldwert und religiöser Wahrheit („so bar, so blank, – als ob / Die Wahrheit Münze wäre!“[8]) ergänzt Jelinek noch um die aus der Vergöttlichung des Geldes resultierenden Abhängigkeitsverhältnisse: „Als ob Geld Schrift wäre! Als ob der Mensch ohne Kredit auskäme! […] Ein ewig währender Kredit, der von Gott kommt“[9].
Zur Kapitalismus- und Religionskritik gesellt sich bei Jelinek aber auch noch die Patriarchatskritik am obersten männlichen Kreditgeber, dessen im Text anzitierter „Weg, die Wahrheit und das Leben“ nicht das Himmelreich zur Folge haben, sondern direkt in den Keller des Hauses Fritzl führen: „für die einen Himmel, für die anderen Hölle“[10].
Es ist somit nur folgerichtig, dass am Ende des Stückes alle Heiligen Schriften „zu Dreck“ verarbeitet  und – ungetrennt – auf der titelgebenden Abraumhalde landen.
Seit jeher gibt es in der Literatur zwei Möglichkeiten, mit dem aus gesellschaftlichen Missständen resultierenden Brechreiz umzugehen: a. ihn zu ignorieren oder b. den Müll – wie es Jelinek tut – aufzusammeln, ihn mit den Mitteln der Sprache kenntlich zu machen und ihn den Verursachern zurück ins Gesicht zu schmeißen. Ich tendiere eher zur letzteren Variante …
lg
Christian

Betreff: Re: Mailwechsel zu Jelineks Abraumhalde
Von:
Bettina Mathes
Datum: 15.2.2017
An: Christian Schenkermayr

Lieber Christian,
Sie haben vollkommen recht: die scheinbar so objektiven, rationalen oder unumstößlichen, weil von Gott gegebenen Wertmaßstäbe – oder Bemessungsgrundlagen – sind uns abhandenkommen, ohne daß wir genau zu sagen wüßten wie eigentlich. Jelineks Abraumhalde hat etwas vom Palaver des Unbewußten, wo nicht nur Alles mit Allem zusammenhängt, sondern wo eben auch allgemein geteilte Bewertungskriterien fehlen bzw. keine Geltung haben. Kriterien, die es uns erlaubten darüber nachzudenken, wie wir zusammen leben möchten und können. Das Unbewußte ist a-moralisch. Es kennt keine Wertmaßstäbe, keine Wahrheit (außer der eigenen) und keine Ethik. Und es akzeptiert kein Nein. Inzest, Allmacht, Egoismus; Neid, Rache, Mord und Totschlag sind dem Unbewußten genauso lieb wie Liebe, Sexualität und Mitmenschlichkeit. Es macht keinen Unterschied. Oedipus hat sich für seine Verfehlung bestraft. Mit seiner Blendung unterwirft er sich dem Gesetz. Und wir? Sind wir verblendet vom schönen Schein des Geldes, so daß wir das Verbrechen gar nicht mehr sehen?
Das Geld, der Gott der Neuzeit, scheint rational, ist es aber nicht – wie wir jeden Tag an der Börse feststellen könnten, wenn wir nur wollten. Das Nicht-Wissen-Wollen hat Konsequenzen. Mit der fast vollständigen Virtualisierung des Geldes geht die Bemessungsgrundlage verloren und damit auch das Fundament auf dem wir als symbolische Wesen stehen. „Und das soll ein Wert sein? Etwas, das draufgeschrieben ist, es aber es selbst nicht ist! …nur weil er draufsteht, hat die Münze an sich noch keinen Wert. Wieso glaubt mir das keiner?” [11]
Diese Entsubstantialisierung öffnet der Entmenschlichung Tür und Tor. Wir behandeln Menschen, von denen wir glauben, sie gehören nicht zu uns – damals Juden, heute Moslems – als wären sie Dinge, die man nicht (mehr) will. Müll eben. Was noch verwertbar ist, behalten wir; was wir nicht brauchen können, schicken wir zurück, wohl wissend, daß diese Menschen, die wir wie Dinge behandeln, dort, wohin wir sie zurückschicken, wohlmöglich den Tod finden. Das nehmen wir in Kauf. Wir orientieren uns an der Rücksichtslosigkeit des Geldes – dem Geld ist alles gleich, es blickt nicht zurück – und an der A-Rationalität des Unbewußten. Und das hat seinen Preis. Einen Preis, den die „Anderen” bezahlen: Frauen, Muslime.
Man konnte es auch so sagen: in den westlichen Gesellschaften, Gesellschaften, in denen die Vermarktlichung und Virtualisierung des Lebens am weitesten fortgeschritten ist, begegnen wir dem Unbewußten in der Zirkulation des Geldes. Wir überlassen uns der „Logik” der Amoralischen, der Gewalt, und der Vergeltung. Je mehr wir uns aber der A-Rationalität des Geldes unterwerfen, je mehr wir uns vom Strom des Unbewußten treiben lassen, desto dringender bedürfen wir einer „Währung”, die uns trägt, die stabil, ordentlich und wenn möglich natürlich erscheint: Geschlecht, Rasse, Kultur. Was wir nicht sehen, und was Jelineks Abraumhalde uns zeigt, ist, daß der Keller im Hause Fritzl, und die scheinbar unangreifbare Macht des Geldes zwei Seiten derselben Münze sind. Wie das Geld „(...) kann ein Keller nicht fallen. Diese Hand da fällt, von mir aus, aber ein Keller fällt nicht, der ist ja schon ganz unten. Der fällt höchstens einer Parkgarage zum Opfer”[12] – nicht jedoch dem Grundgesetz, welches ja eigentlich der Grund sein sollte, auf dem wir stehen. Was ich aus der Abraumhalde herauslese, ist die Aufforderung, Wege zu finden, um die folgenreiche Rücksichtslosigkeit des Geldes zu bändigen (wie Freud es für das Unbewußte der Kultur verlangt hat).
Und wo wir schon über Wertmaßstäbe reden: ich finde die Literatur hat mehr als nur zwei Optionen. Sie kann ignorieren oder uns den Dreck ins Gesicht schmeißen, wie Sie treffend schreiben. Sie kann aber auch die weicheren, wärmeren, menschenfreundlicheren Gefühle in mir aktivieren: die Sehnsucht nach Bindung, nach Zärtlichkeit, das Bedürfnis zu geben und nicht nur zu nehmen. Die Literatur kann uns ganz ohne erhobenen Zeigefinger zur Empathie anleiten; sie kann uns Hoffnung geben. Wut, Ekel, Schock und Scham ist nicht die ganze Palette.
Ich freue mich auf Ihre Antwort.
Liebe Grüße,
Bettina

Betreff: Re: Mailwechsel zu Jelineks Abraumhalde
Von:
Christian Schenkermayr
Datum: 17.2.2017
An: Bettina Mathes

Liebe Bettina,
diese Wege zur Bändigung der Rücksichtslosigkeit des Geldes, von denen Sie sprachen, führten bei Jelinek seit jeher über die Sprache. So ist etwa ihr Theatertext Die Kontrakte des Kaufmanns ja geradezu ein Paradebeispiel dafür, wie euphemistische Sprachstrategien der Finanzwelt vorgeführt und ad absurdum geführt werden. Die Durchsetzung der Finanzsprache mit religiösen Termini ist da bereits ebenso augenfällig wie die Herabwürdigung der Frauen in diesem Vokabular. Nirgendwo ist das Unbewusste so präsent wie in unserem tagtäglichen Sprechen. Genau hier setzt Jelinek an.
In Abraumhalde, das bereits kurz nach der Fertigstellung der Kontrakte entstanden ist, setzt sich diese Tendenz fort. Wie selbst-entlarvend die religiöse und ökonomische Rede im Text in Erscheinung tritt, zeigt sich etwa in den Intertexten aus der Bergpredigt. Während die Armen in den Seligpreisungen auf das Himmelreich verwiesen werden, dreht Jelinek die Münze um und blendet die finanzielle Not im Diesseits ein: „Ich aber sage euch: Die Menschen werden ärmer sein und später ihre Pension antreten, und sie werden sehr arm sein, sie werden noch ärmer werden als arm, aber sie werden Vertrauen haben, doch sie werden enttäuscht werden. Sie werden selber schuld sein.“[13] Gott spricht hier nicht mehr von der Erlösung, sondern bestenfalls von einer Rentenversicherung („Ich aber, einziger Gott, sage euch, sie sollen gefälligst vorsorgen.“[14]), deren Erlös sich, wie wir aus den Kontrakten des Kaufmanns wissen, sehr schnell im Nichts auflösen kann.
Wie nahe der schöne Schein, politische Macht und patriarchale Gewalt in der Sprache beisammen liegen, zeigt sich in Abraumhalde u.a. auch in der Doppeldeutigkeit des Verbums „kriegen“ aus der letztens zitierten Ringparabel-Sequenz, in dem die Bedeutungen von „etwas bekommen“ und "Krieg" untrennbar miteinander verschmolzen sind, oder in der Verwendung des Begriffs „Vater“,die im Text vexierbildartig zwischen Gott-Vater und Vater-Fritzl oszilliert.
Indem den scheinbar harmlosen Begriffen ihre Unschuld genommen und die dahinterliegende Gewalt kenntlich gemacht wird, wird das Wirkungspotenzial religiöser wie ökonomischer Rede, das ja in wesentlichem Maße darauf beruht, ebendiese Gewalt zum Verschwinden zu bringen, bei Jelinek gehörig unterlaufen.­­­­
Ich gebe zu: Zärtlichkeit und Empathie sucht man in Abraumhalde vergeblich. Aber wenn – wie dies in Jelineks Texten geschieht – das Unbewusste, von dem Sie im letzten Mail sprachen, zu Bewusstsein gebracht wird, wäre doch schon mal viel gewonnen, oder?
Liebe Grüße
Christian

Betreff: Re: Mailwechsel zu Jelineks Abraumhalde
Von:
Bettina Mathes
Datum: 20.2.2017
An: Christian Schenkermayr

Lieber Christian,
ja natürlich wird bei der Lektüre von Jelineks Texten viel an Bewusstsein gewonnen. Da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Zur gleichen Zeit zeigen ihre Texte aber auch, daß sich die Sprache immer wieder, und immer wieder aufs Neue dem Bewusstsein entzieht. Die Sprache beherrscht uns mehr als wir sie beherrschen – das hat sie mit dem Geld gemein – und dennoch schreiben wir gegen diese Herrschaft an. Das ist das Schöne an der Sprache: daß sie Spuren hinterläßt (phonetisch, semantisch, etymologisch). Spuren, die es uns erlauben, die Sprache mit sich selbst ins Gespräch zu bringen, was man vom Geld nicht behaupten kann.
Das bringt mich noch auf etwas anderes, was mich beim ersten Lesen unmittelbar berührt hat, ohne daß ich wüßte, wie darüber zu schreiben. Vielleicht haben Sie mehr Worte? Relativ am Anfang von Abraumhalde gibt Jelinek uns ein (für mich) verstörende Bild: „Die Leute ziehen sich Gott wie einen blutigen Bandwurm oder eine Nachgeburt aus dem Mund.“[15] Meine Gedanken gehen zum einen in Richtung Parasit (Bandwurm). Die Religion als ungebetener Gast, den man nicht mehr los wird, der einem die Gedärme auffrisst, aber nur ein bißchen, denn der Bandwurm will den Wirt ja nicht umbringen. Die Nachgeburt, auch Mutterkuchen genannt, ist kein Parasit und sie kommt normalerweise auch nicht aus dem Mund. (Bandwürmer schon. In einer Klinik in Neu Delhi wurde kürzlich einem Mann ein fast zwei Meter langer Wurm aus dem Mund gezogen.) Ohne Nachgeburt wird kein Kind geboren. Das Bild der Geburt aus dem Mund oder der Mund als Gebärmutter wird wenig später nochmals aufgerufen: “und dann gebären wir selbst den Gott, als Lebendgebärer, höchstens noch als Maulsbrüter, und zwar kriegt jeder seinen eigenen! Dann ist hoffentlich Schluß.” Die Sprache kommt aus dem Mund. Jeder Sprechakt ist ein Geburtsakt. Aber die Sprache dringt auch in uns ein, befruchtet uns, wie einst die Verkündigung Maria befruchtete, und sie lebt dann in uns weiter, ohne daß wir etwas dagegen tun könnten. Die Sprache, das göttliche Wort, den väterlichen Logos kann man nicht abtreiben. Ich bin neugierig, wie Sie diese Bilder deuten.
Einstweilen alles Gute aus Granada,
Bettina

Betreff: Re: Mailwechsel zu Jelineks Abraumhalde
Von:
Christian Schenkermayr
Datum: 22.2.2017
An: Bettina Mathes

Liebe Bettina,
die Ambivalenz dieses Bildes von Bandwurm und Mutterkuchen als Sprachgeburt ist in der Tat kaum zu übertreffen. Genauso ambivalent ist aber auch das Sprechen über (oder im Namen von) Religion. Religiöse Sprechakte können in den Dienst des Lebens gestellt werden oder - parasitär eingesetzt – einen, bildlich gesprochen, innerlich zerfressen. Um diesen Ge- oder Missbrauch der Sprache dreht sich bei Jelinek alles. Die große Gefahr bei religiösen Sprechakten ist, dass sie eben nicht eigenmächtig daherkommen, sondern sich auf eine „höhere“, göttliche Instanz berufen. Im Namen dieser Instanz lässt sich – je nachdem, was gerade „vergöttlicht“ wird – alles rechtfertigen: ökonomische Ausbeutung, Unterdrückung von Frauen, Gewalt gegen Andersdenkende etc.
Sprache kann aber auch aufklären und unterbliebenes Sprechen fatale Folgen haben. So kreist der letzte Absatz in Abraumhalde sowohl um die toten Kinder im Fritzl-Keller, die durch einen rechtzeitigen Notruf hätten gerettet werden können, gleichzeitig aber auch um das Auffliegen des Falles, im Zuge dessen das monströse Gebilde an Lügen des Möchtegern-Gottes wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt ist.
Es stimmt schon, jeder Sprechakt ist ein Geburtsakt. Welche Götter oder Götzen wir uns damit erschaffen, hängt von uns ab. Jelinek wird jedenfalls nicht müde, in ihren Texten die Möglichkeiten der Sprache auszuloten, sowohl ihre Schönheit und ihr aufklärerisches Potenzial, aber auch ihren Missbrauch in aller gegebenen Deutlichkeit aufzuzeigen.
Liebe Grüße
Christian

  • Bettina Mathes Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik an der Goethe Universität in Frankfurt/M; Promotion und Habilitation in Gender Studies/Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin; Lehrtätigkeit an der Pennsylvania State University und der School of Visual Arts in New York City. Psychoanalytikerin und Kulturhistorikerin. Seit 2017 lebt und arbeitet sie in Granada und Madrid. Sie veröffentlicht zu den Themen Psychoanalyse, islamische Kunst und Kultur, Film und Geschlechtergeschichte. Letzte Buchveröffentlichung in Zusammenarbeit mit Christina von Braun: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen. (2007, Neuauflage 2017).
  • Christian Schenkermayr Studium der Germanistik an der Universität Wien. Seit 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums. Veröffentlichung zahlreicher Publikationen über die Autorin. 2006-2008: ÖNB-Projekt Die europäische Rezeption von Elfriede Jelineks Theatertexten. 2008-2012 Universitätsassistent i.A. an der Universität Wien. 2013-2014: FWF-Projekt Elfriede Jelinek: Werk und Wirkung. Annotierte Bibliographie. 2016 Promotion mit einer Arbeit über interreligiöse Diskurse im Spannungsfeld sprachanalytischer Schreibverfahren am Beispiel ausgewählter Texte von Elfriede Jelinek, Barbara Frischmuth und Josef Winkler.

Anmerkungen


[1] Jelinek, Elfriede: Abraumhalde. http://www.elfriedejelinek.com/ (3.2.2017), datiert mit 30.5.2008/4.10.2009 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2009, Theatertexte).

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Ebd.

[7] Ebd.

[8] Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. http://gutenberg.spiegel.de/buch/nathan-der-weise-1179/22 (13.2.2017) (=Website des Projekt Gutenbergs).

[9] Jelinek, Elfriede: Abraumhalde. http://www.elfriedejelinek.com/ (3.2.2017), datiert mit 30.5.2008/4.10.2009 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2009, Theatertexte).

[10] Ebd.

[11] Ebd.

[12] Ebd.

[13] Ebd.

[14] Ebd.

[15] Ebd.