Irene Husser

Alternativen zum Terror

Ästhetik der Vaterlosigkeit in Elfriede Jelineks Wut 

 

Elfriede Jelineks Theatertext Wut[1] bietet ein Panorama über die historischen und gegenwärtigen Spielarten der Wut und Raserei: Es geht um die Wut von islamistischen Terroristen gegenüber der westlichen Welt und dem Judentum; es geht um die Wut von Normalbürgern, die sich in sozialen Netzwerken und Internetforen entlädt; es geht um die Wut der Hutus gegenüber den Tutsis und den Völkermord in Ruanda; es geht um die Wut rechter Demagogen damals wie heute; die Wut der EU-Gläubiger gegenüber dem finanziell ruinierten, verschuldeten Griechenland; schließlich geht es auch um die vom göttlichen Wahn befallenen antiken Helden wie Herakles, der in der Tragödie von Euripides seine gesamte Familie grausam umbringt. Jelinek zeichnet den Affekt der Wut also nicht nur als transhistorisches und transkulturelles Phänomen nach, sondern konstruiert auch ein Kontinuum von Gewalt, Mord und Zerstörung, an dessen Ursprung eine zum Wahn gesteigerte, außer Kontrolle geratene Erregung gesetzt wird. Die Auseinandersetzung mit Gewalt – sei es in Form von Kriminalfällen, politischen und religiösen Konflikten, Genoziden, Terrorismus etc. – stellt eine Konstante in Jelineks literarischem Œuvre dar. In diesem Sinne reiht sich Wut in die fortwährende kritische Arbeit der Autorin an den sprachlichen und ideologischen Grundlagen der psychischen, physischen und strukturellen Gewalt in den postfaschistischen Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts ein und wirft mit der Auseinandersetzung von Wut und Größen-/Wahn eine kulturgeschichtliche Perspektive auf Gewaltphänomene der Zeitgeschichte und jüngsten Vergangenheit.

Jelineks Interesse gilt dabei vor allem der religiös und politisch motivierten Tötungslust: Ein Großteil von Wut kreist um die islamistischen Anschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris 2015, den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden und den Genozid in Ruanda. Jelinek setzt eine einem Täterkollektiv zugeordnete Rede in Szene, in der Gewalttaten referiert, Facetten der Wut durchgespielt und ihre kulturellen und sozialen Dispositionen verhandelt werden. Im Wechsel der Sprecherpositionen wird der Chor der Wütenden dabei auch immer wieder ironisch gebrochen und zum Gegenstand einer kritischen und spöttischen Kommentierung gemacht: „Die werden staunen, wenn sie sie [die Götter] nicht finden, weil es sie nicht gibt.“ (Wut, S. 6) Mit der Konstruktion eines Gewaltdiskurses, der seine kultur- und sozialpsychologische Bedingungen mitspricht, lässt sich der Theatertext in Anlehnung an Klaus Theweleits Studie Das Lachen der Täter,[2] die als Intertext im Anhang aufgeführt ist, auch als ein kulturelles Psychogramm der Tötungslust lesen. Dabei thematisiert Jelinek Wut, Wahn und Terror als intersektionale Phänomene: Der Chor der Wütenden, Frustrierten und Gewaltbereiten ist in all seinen Figurationen und Facetten als jung, männlich, chauvinistisch und patriarchal sozialisiert markiert. Jelinek konzentriert sich dabei in der Auseinandersetzung und Kritik patriarchaler Ordnungen mit dem Islam auf ein religiöses System, dem die Aporie patriarchaler Machtbeziehungen: die Unmöglichkeit einer allmächtigen Vaterfigur strukturell eingeschrieben ist und das durch diese metaphysische Vaterlosigkeit zum Einfallstor für Wut und andere Formen des Extremistischen wird. Jelineks Fokus auf den islamistischen Terrorismus stellt somit eine Reflexion zeitgenössischer politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen dar, ist zugleich jedoch auch im Kontext einer für ihr Schreiben programmatischen feministischen Patriarchatskritik zu sehen. Im Folgenden soll die Mehrfachkodierung von Gewalt in Wut beleuchtet, sprich der Zusammenhang von (islamistischem) Terrorismus und Geschlecht, Sexualität, Alter und Religion auseinandergesetzt und ausgehend davon der religionskritische Impetus des Theatertextes im Hinblick auf die Entwicklung einer weiblichen, vaterlosen Ästhetik reflektiert werden.

Wut und Misogynie
Das wütende Wir ist als ein männliches Kollektivsubjekt ausgewiesen, was sich schon daran zeigt, dass Frauen in dem Theatertext nur als Objekt der Rede vorkommen und als das Andere, in dem Diskurs Abwesende genannt werden. Wenn von Frauen die Rede ist, sind sie stets in ihrer Beziehung zu einem Mann als „Gattin des Schützen“ (Wut, S. 6), „die verschleierte Gattin“ (Wut, S. 16) und „Jungfrauen, welche kommen, um zu euch zu beten,“ (Wut, S. 8) definiert. Jelinek lenkt hier vor allem den Blick auf den symbolischen Ausschluss der Frau aus der religiösen Ordnung im Christentum und Islam: „Frauen kommen hier keine vor, [...], der Vater hat es so gewollt, der Sohn hat eingewilligt, ist das nicht schön, diese Eintracht in der Dreieinigkeit?“ (Wut, S. 15) Frauen stehen nicht nur ganz unten in der religiösen „Befehlskette“ (Wut, S. 23), vielmehr drängt der männlich-religiöse Diskurs auf die Auslöschung und Unsichtbarmachung des Weiblichen. Jelinek kontrastiert die Schaulust und das Verlangen nach Selbstdarstellung der islamistischen Attentäter („Da müssen wir was machen, dass man uns besser sieht.“ (Wut, S. 4)) mit dem muslimischen Verschleierungsgebot, die Sichtbarkeit des Mannes mit der religiös verordneten Unsichtbarkeit der Frau: „[...] die Frauen wären zwar da, wir hätten sie im Angebot, aber auch sie dürfen nicht gezeichnet werden, kein Abbild von denen, obwohl es sich vielleicht lohnen würde. Da hilft es schon sehr, dass man sie gar nicht sieht, sie befinden sich hinter einer Art Wand aus Stoff.“ (Wut, S. 16) Gewalt als männliche Machtausübung gegenüber Frauen ist in Wut jedoch nicht nur religiös kodiert, sondern wird auch im Rahmen von antiken Mythen (Zeus‘ zahlreiche Vergewaltigungen) und den Massakern an den Tutsis verhandelt[3] und so als ein omnipräsentes kulturelles Muster thematisiert. Der Diskurs des  Wütenden  ist  eindeutig  als  ein  frauenfeindlicher  und  -verachtender  Habitus ausgewiesen, der zur symbolischen und physischen Vernichtung des Weiblichen drängt.

„Ficken und Töten“
Klaus Theweleit spricht im Hinblick auf das Welt- und Selbstbild des rechtsextremen Terroristen und Massenmörders Anders Breivik von einem „anti-weiblichen Komplex“,[4] der bezeichnend für faschistische, andro- und phallozentrische Ideologien ist: „Breivik ist strukturell patriarchalischer Muslim wie auch norwegisch-christlicher Antisemit wie auch germanisch-sektiererischer SS-Mann [...].“[5] Analog dazu setzt auch Jelinek in ihrem Theatertext einen aggressiv-männlichen und dezidiert misogynen Diskurs in Szene, der über kulturelle und religiöse Grenzen reicht, dabei jedoch stets kulturell und religiös kodiert ist und die ideelle Grundlage für einen Männlichkeitskult darstellt, der mit der Abwertung und Elimination des Weiblichen einhergeht. Die Imaginationen idealtypischer Männlichkeit, die im Gewaltdiskurs entworfen werden, sind dabei vor allem an die Körperlichkeit, genauer gesagt an eine aggressiv-phallische Sexualität gebunden. Im Assoziationsfeld von Phallus/ Waffe/ Feuer bzw. Flammen, die „im Zucken [...] an die Erregtheit des rege tätigen Phallus“ (Wut, S. 7) erinnern, führt Jelinek die Verschränkung von Sexual- und Destruktionstrieb vor und zeichnet das Bild einer „Tötungssexualität“,[6] die auf der Verabsolutierung des Phallischen und Fetischisierung von Körpern, die der Härte preisgegeben sind (Vgl. Wut, S. 8), gründet: „Ihr Trieb, zu ficken oder zu töten, je nachdem, ist jederzeit abrufbar [...].“ (Wut, S. 7)

Jelineks Überlegungen zum Verhältnis von Körper, Sexualität und Gewalt beziehen ihre Bildlichkeit vor allem aus Freuds Zur Gewinnung des Feuers, wobei die Beziehung zur Freud’schen Psychoanalyse durchaus ambivalent gestaltet ist. Jelinek schließt in der Darstellung des Ineinanders von Eros und Thanatos produktiv an Freud an, rezipiert die Psychoanalyse jedoch gerade in ihrer phallozentrischen Ausrichtung immer auch ironisch-kritisch und nimmt von Freuds Verabsolutierung des Männlichen Abstand. Denn just in der Fetischisierung des Phallischen und Harten lokalisiert die Autorin ein soziokulturelles Gewaltpotential und macht diese als Schnittpunkt zwischen religiösen und terroristischen Diskursen geltend.

Rausch der Jugend
Stellenweise liest sich Wut als Hymne an die Jugend bzw. Selbstbepreisung „junge[r] sportliche[r] Kerle“ (Wut, S. 8):

Wir sind jung und könnten noch viel mehr tun, falls gewünscht, wir haben Zeit. Eine schmerzlich süße Lust ist unsere Jugend, eine schimmernde Wehr, denn wir müssen uns doch wehren [...]. Stellen Sie sich vor, unsere Allmachtsphantasien, unsere Grandiosität, [...], dieses Gefühl der Einmaligkeit und Großartigkeit, wer jung ist, kennt das alles, Halbwesen voll   des Halbwissens sind wir Jungen, wir lassen nur Entweder-Oder gelten und zeichnen uns aus durch Hass gegen jede tieferergreifende Besinnung. (Wut, S. 25)

Der junge, potente, athletische Mann stellt einen Archetyp dar, auf den Jelinek in ihren Arbeiten (so etwa in Lust, Die Kinder der Toten, Gier, Ein Sportstück, Bambiland) immer wieder zurückkommt und den sie mit protofaschistischen Zügen ausstattet. Auch in Wut lässt sie diesen kulturellen Archetyp in der Inkarnation von islamistischen Terroristen in seinem Narzissmus, Größenwahn und Vernichtungswillen auftreten und profiliert so ein relativ junges globales Phänomen als kulturelles Muster, das sogar bis in das Altertum zurückreicht. Denn die Autorin rekurriert auf antike Figuren wie Herakles, Prometheus und die Titanen als Kulturheroen und Urmenschen, die in einem Akt der jugendlichen Revolte, der immer auch schon einen Akt der Gewalt bezeichnet, Kultur begründet haben. Im Zuge dieser Engführung erscheint der Islamismus zum einen als eine spezifisch moderne Jugendrevolte, die die Distinktion gegenüber dem Establishment und der Elterngeneration zum Zweck hat: „[...] wir haben die Erstarrung des Normalen gemieden, und sie hat uns gemieden. [...] Wir haben das Mittelmäßige und das Immergleiche gleich ausgelassen [...].“ (Wut, S. 24) Zugleich jedoch wird der islamistische Terrorismus als die Wiederholung eines Immergleichen, und zwar der Gewalt, die patriarchalen Ordnungen systematisch zu eigen ist, markiert. Die „Überheblichkeit“ (Wut, S. 3) und Selbstanmaßung der Jünglinge ist älter als diese selbst und gerade diese apersonale Struktur des Terrorismus macht ihn so gefährlich, weil zu einem gewissen Maße unkontrollierbar.

Abwesende Väter und wütende Söhne
Im Vergleich zu Jelineks früheren Figurationen des jungen, militanten Mannes als faschistischen Prototypen trägt der Männlichkeits- und Jugenddiskurs in Wut die Signatur eines Vater-Sohn-Konfliktes, der religiöser Natur ist. Die wütenden, delinquenten, der Gesellschaft abtrünnigen Jünglinge sind als Söhne ausgewiesen, deren Rede an eine göttliche Vaterinstanz gerichtet ist. Der Fokus wird vor allem auf das Verhältnis von Gott und Mensch bzw. Vater und Sohn im Islam gelegt, wobei durch die stellenweise Bezugnahme auf Vater-Sohn-Konstellationen im Christentum und in griechischer Mythologie der männliche Generationenkonflikt als ubiquitäre Struktur religiöser Systeme zutage tritt. Religion wird als dysfunktionale patriarchale Ordnung ausgestellt, in der Frauen keinen Ort haben und die den Nährboden für Wut, Hass und Gewalt darstellt. Der Theatertext thematisiert die Funktionalisierung von Religion zur Legitimation des individuellen und kollektiven Vernichtungswillens: „Wir bringen Verderben, aber wir sagen, dieses Verderben sei gottgesandt.“ (Wut, S. 5) Wenn für eine „Glaubens-App“ (Wut, S. 26), die sich die technikaffinen Terroristen kostenlos auf ihrem Smartphone installieren können, und für das Paradies als „Parfümerieabteilung im Kaufhaus“ (Wut, S. 8) geworben wird, macht der Theatertext den Zusammenhang von Islam und Kapitalismus geltend und profiliert den islamistischen Terrorismus als konsumistische Ersatzhandlung: „Wir haben nichts, und in Dunkel sind wir gehüllt, die aber, die Juden stehen immer sofort im Licht.“ (Wut, S. 3) Ressentiment, ökonomischer Neid und verletztes Selbstwertgefühl werden von Jelinek hier als profane Ursachen religiösen Wahns ins Feld geführt.

Auf der anderen Seite wird Religion in dem Theatertext jedoch nicht nur als sekundäres ideologisches System reflektiert, das a posteriori apologetisch zum Einsatz kommt, sondern ist als eine per se pathogene Machtstruktur definiert, der ein fundamentaler Mangel zugrunde liegt: „Wer den Mangel findet, der findet die Beschwerdestelle, und die ist meist Gott, ja, bloß welcher?“ (Wut, S. 19) Jelineks Ausführungen rekurrieren hier auf anthropologische und religionspsychologische, vor allem psychoanalytische Ansätze, die in der Installation einer allmächtigen väterlichen Instanz, also der Vorstellung eines Absoluten, eine Kompensationsleistung für die Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und Hilfsbedürftigkeit ausmachen. Bereits bei Freud ist jedoch diese Vater-Sohn-Beziehung auf onto- wie phylogenetischer Ebene als konfliktgeladen und belastet durch sexuelle Rivalitäten und Machtkämpfe ausgewiesen. Auch in Wut ist das Verhältnis von Gott und Mensch als angespannt und dysfunktional angelegt. Der Chor der Söhne buhlt um die Aufmerksamkeit des göttlichen Vaters und will „[m]it diesen Morden [...] doch gerade [...] [seine] Ansprüche auf einen Vater geltend machen [...].“ (Wut, S. 21) Dabei stellt der Theatertext den Widerspruch heraus, dass die vom Pathos der Jugend getragene Entgrenzung und Selbstermächtigung zum Mord eine Übertretung des väterlichen Gesetzes bedeutet und die Selbstinauguration des Terroristen zum „kleine[n] Gott“ schließlich auch die Ausstreichung der Vaterinstanz zum Ziel hat: „Er ist als Vertreter des Alleingotts gekommen [...]. Doch in Wahrheit ist er der Gott, der einzige, und er spricht in seinem eigenen Namen, den er kaum schreiben kann.“ (Wut, S. 3) Das hier angedeutete Zerwürfnis wird bei Jelinek auf das Misslingen der Rückversicherung der väterlichen Instanz zurückgeführt und die unüberwindbare Entfernung zwischen Gott und Mensch, Vater und Sohn als Ursache und Wirkung des religiösen Wahns ausgestellt: Wirkung, weil die Identifikation mit dem Absoluten nicht erreicht wird und die fortwährende Verfehlung einen Kreislauf der Gewalt in Gang setzt; Ursache, weil die Identifikation überhaupt gar nicht erst erreicht werden kann, insofern es sich bei Gott um eine idée fixe, eine Leerstelle in der symbolischen Ordnung handelt: „Da ist ein Loch, wo eigentlich der Vater sein sollte.“ (Wut, S. 21) Die Fragilität und das daraus hervorgehende Gewalt- und Aggressivitätspotential der religiös begründeten Vater-Sohn-Konstellation wird mit der Abwesenheit Gottes in Verbindung gebracht. In Wut ist immer wieder von der „schrecklichen Vaterlosigkeit“ (Wut, S. 21) der Wütenden und ihrem vergeblichen Bemühen um eine göttliche Vaterfigur die Rede: „kein Vater ist da, nur Gott“ (Wut, S. 9), und dieser bleibt für die „[v]aterlose[n] Söhne“ (Wut, S. 19) stets unerreichbar.

Das Bild der Vaterlosigkeit artikuliert letztlich eine fundamentale Kritik an patriarchalen religiösen Systemen, werden doch religiöse Vorstellungen als Wahnideen, die auf eine Leerstelle verweisen, kenntlich gemacht und der Horror vacui zum Triebfeld von Aggressionen und Gewalthandlungen erklärt. Zugleich ist der Diskurs der Vaterlosigkeit aber auch als eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Islam zu lesen. So verweist etwa Slavoj Žižek darauf, dass „[i]m Unterschied sowohl zum Judentum als auch Christentum [...] der Islam Gott aus dem Bereich der väterlichen Logik aus[schließt]: Allah ist kein Vater, nicht einmal ein symbolischer [...].“[7] Gerade weil Gott jedoch als ein „unmöglich-reale[r] außenstehende[r] Vater“[8] erscheint, ist das Politische und das Religiöse im Islam nach Žižek so eng miteinander verwoben: Ohne genealogische Folge begründet sich die religiöse Gemeinschaft „‚aus dem Nichts‘ heraus [...] als egalitäre revolutionäre Brüderschaft [...] – es überrascht nicht, dass der Islam dort Erfolg hat, wo sich junge Männer des traditionellen familiären Sicherheitsnetzes beraubt sehen.“[9] In ihrem Theatertext setzt Jelinek diese „genealogische Wüste“[10] des Islams als einen Raum der Gewalt und der Gesetzlosigkeit[11] in Szene, in dem nicht nur die Abwesenheit des väterlichen Gesetzes, sondern vor allem die Unfähigkeit, dieser Leere Stand zu halten, zur Ausbildung militanter Sozietäten führt.

Schreiben ohne Vater
Wut ist ein Text über den Islamismus und andere gegenwärtige Radikalisierungs- und Militarisierungsphänomene, in dem Jelinek die kulturellen und sozialen Bedingungen der Wut, die in den extremistischen Wahn führt, reflektiert. Dazu wird ein Raum konstruiert, der sich durch die Abwesenheit eines ordnenden Prinzips bzw. väterlichen Gesetzes auszeichnet. Jelinek konturiert diesen Raum als einen Raum der Gewalt, der ein Einfallstor für chauvinistische, androzentristische, sexistische und militaristische Ideologien darstellt. Die Absenz einer autoritären metaphysischen Instanz wird durch die Einsetzung hierarchischer, paternalistischer Strukturen, die dem Ideal heroischer Männlichkeit nachempfunden sind, kompensiert, die Abwesenheit eines allmächtigen Vaters durch die Präsenz eines hypervirilen, omnipotent gebarenden Sohnes wettgemacht. Der radikale Islam als patriarchales System, das dem Prinzip der Unterwerfung folgt (bedeutet „Islam“ doch wörtlich übersetzt „Unterwerfung, völlige Hingabe“), stellt in Jelineks Text nur ein hochaktuelles Beispiel für die Dialektik von Unterordnung und Herrschaft dar: Der Entzug des Absoluten führt nicht zur Freiheit und Selbstbestimmung, sondern eröffnet einen (gesellschaftlichen, politischen, digitalen) Raum, in dem die väterliche Ordnung umso energischer durchgesetzt wird: „[...] wo ein gesellschaftlicher Leerraum, ein ‚Vakuum‘, nicht mit vernünftigen Umgangsformen gefüllt wird, strömen Gangster ein; strömen andere Gewalten ein [...].“[12]

Wut liest sich damit als Kommentar zur Lage postsäkularer und postideologischer Gesellschaften nach dem Ende der Metanarrationen und weist auf die Fragilität von soziokulturellen Ordnungen hin, die sich von der Vorstellung absoluter Transzendenz losgesagt haben. Zugleich jedoch verwehrt sich der Text einer melancholischen Sehnsucht nach einer „gutmütigen“ Vaterfigur und bewegt sich damit in kritischer Distanz zu psychoanalytischen Thesen von der „Angewiesenheit des Menschen auf die Referenz des Absoluten.“[13] Die patriarchale Ordnung ist bei Jelinek inhärent dysfunktional, gewalttätig und strukturell sexistisch, durch den Ausschluss des Weiblichen definiert. Zurück zum allmächtigen Vater ist also keine Option! Der Theatertext selbst führt die Möglichkeit einer anti-patriarchalen, vaterlosen Ordnung vor. Das polyphone, dezentrierte, selbst-/ironische Sprechen ist in einem Raum angesiedelt, der sich nicht auf ein transzendentales Signifikat zurückführen lässt und von keinem Herren-Signifikanten organisiert und begrenzt wird. Sinn ist stets Effekt assoziativer, lokaler Zeichenfigurationen; das rhizomatische Textorganisationsprinzip unterminiert die Ausbildung hierarchischer Strukturen; die Darstellung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sprengt die väterliche genealogische Ordnung. Jelineks Ästhetik folgt also einem anti-patriarchalen Prinzip, das sich angesichts der Absenz des Absoluten weigert, eine väterliche, d.h. den Gesetzen der Repräsentation, Hierarchie und des (Vater-Sohn-)Binarismus verpflichtete Ordnung zu simulieren, und im Gegenteil autoritäre, ideologische Strukturen und Instanzen angreift, verspottet und dekonstruiert. Jelineks Texte sind also vaterlose Texte, die sich unter den Bedingungen postmoderner Transzendenzlosigkeit produktiv einrichten und Alternativen zum (leider realen) Rückfall in Patriarchat, Gewalt und Terror entwerfen.

Anmerkungen


[1] Jelinek, Elfriede: Wut. In: Theater heute 57/6 (2016), S. 1-31. Im Folgenden zitiert mit Wut.

[2] Vgl.: Theweleit, Klaus: Das Lachen der Täter: Breivik u.a. Psychogramm der Tötungslust. St. Pölten: Residenz Verlag 2015.

[3] Vgl.: „Es wird ihm zugetragen, zugeschrien, dass es schwanger ist, das Mädchen. Das stört ihn gar nicht, sagt der Nachbar und schlitzt ihr mit der Machete den Bauch auf.“ (Wut, S. 21) In diesem Auszug bezieht sich Jelinek auf Milo Raus Projekt Hate Radio.

[4] Theweleit: Das Lachen der Täter, S. 107. Theweleits Darstellungen orientieren sich hierbei an seinen Untersuchungen zum faschistischen Männertyp in: Theweleit, Klaus: Männerphantasien. 2 Bde. München: Piper 2000.

[5] Theweleit: Das Lachen der Täter, S. 108.

[6] Ebd. S. 34.

[7] Žižek, Slavoj: Blasphemische Gedanken. Islam und die Moderne. Berlin: Ullstein 2015, S. 37.

[8] Ebd.

[9] Ebd. S. 38.

[10] Benslama, Fethi: La psychoanalyse a l’épreuve de l’Islam. Paris: Aubier 2002, S. 320. Zitiert nach Žižek: Blasphemische Gedanken, S. 37.

[11] Zur Analyse vom „terroristischen Zwischenraum“ in Wut unter transkulturellen Gesichtspunkten siehe auch Busch, Nicolai: Kein Raum für Verhandlung. Elfriede Jelineks Theatertext Wut. In: Janke, Pia / Sczcepaniak, Monika: Jelineks Räume. [im Erscheinen].

[12] Theweleit: Das Lachend der Täter, S. 80.

[13] Behrendt, Hans-Joachim: »iustitia prohibitoria«. Das väterliche Gesetz und die ödipale Szene. In: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 23 (2008), Ergänzungsheft, S. 1-25, hier S. 10. Behrendts Essay ist als Intertext im Anhang von Wut aufgeführt.