Britta Kallin, Keiko Nakagome

Internationale Perspektiven auf Jelinek und Gender

Fragen zur Religion

 

In einigen jüngeren Texten (z.B.: Bambiland, 2004, Das Wort als Fleisch verkleidet, 2004, Abraumhalde, 2009, The Cast-off Gaze, 2009, Wut, 2016) thematisiert Jelinek neben interreligiös übergreifenden Strukturen in diesem Kontext dezidiert Terrorismus. Wie, wenn überhaupt, werden diese Texte in Ihrem Land rezipiert?

Britta Kallin

Sicherlich sind Bambiland und Babel Texte, in denen Jelinek die Außen- und Innenpolitik sowie die Rolle des Militärs und der Kriegführung der USA auseinandernimmt, die aber nur wenigen hier in den USA bekannt sind. In dem Stück Die Schutzbefohlenen geht es bei Jelinek um Flüchtlinge, die sich vor Terrorismus und Diktaturen retten wollen. Jelinek ist dafür bekannt, dass Sie Kritik an institutionalisierter Religion, besonders dem Katholizismus und seinen Vorgaben an die Menschen übt. Leider werden Jelineks Texte in den USA nur bedingt rezipiert und das meistens an Universitäten, da es nicht viele gute englische Übersetzungen ihrer Texte gibt und ihre politische Kritik an den USA bei vielen Lesern Unbehagen verursacht.

Keiko Nakagome

Vor dem Essay Nachwort zu Bambiland und Babel von Bärbel Lücke bzw. dem Zitat am Anfang der inhaltlich vollkommenen Hommage von Martin Seel zum Tode von Jacques Derrida,[1] hatte ich fast keinen Mut, auf die Fragestellung zu antworten, aber darf ich sie als Enquete in aller Kürze beantworten? Bei den interreligiös übergreifenden Strukturen der Autorin lässt sich auch die Neigung feststellen, eine Definition Gottes mit absichtlich ambiguierenden Ausdrücken in Frage zu stellen. Z.B. indem die Autorin den unmenschliche Missetaten begehenden Vater der Tochter im Keller in dem Sekundärdrama FaustIn and out (2012) und in Abraumhalde (2009) „Gott“, „Herrgott“, den „Herr der Welt“ und „Totengott“ nennt, ist der Gottes-Begriff dekonstruiert. Wenn man dieses Phänomen interreligiös übergreifende Struktur nennt, rechnet man wahrscheinlich nicht mit den Religionen in unserem Land. So wie man in Mitteleuropa an eine der drei verschiedenen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – ,die in dem Stück Nathan der Weise behandelt werden, glaubt, glaubt man in unserem Land normalerweise entweder an Buddhismus oder an Shintoismus. Aber zwischen ihnen gibt es kein Tabu der Überschreitung, d.h. etwa, dass diejenigen, die an den Buddhismus glauben, am ersten Tag des Jahres den Shinto-Schrein besuchen können, um für das neue Jahr zu beten. Umgekehrt haben die meisten japanischen Familien das eigene Grab in einem buddhistischen Tempel. Natürlich besuchen auch mehrere Leute, die nur an das Christentum glauben, konsequent bei jeder Zeremonie die Kirche. Kurz gesagt, sind wir den Religionen gegenüber nachsichtig. Wir haben die Glaubensfreiheit. Wenn man in unserem Land Jelineks Stücke aufführt, muss man diese Verhältnisse bzw. Bräuche berücksichtigen. Im Gegenzug müssen wir auf die strengen religiösen Vorschriften bei anderen Religionen achten, als wichtige Voraussetzung, diese zu verstehen. Weil die Autorin von Roland Barthes beeinflusst ist, schafft sie ihre Werke auf die Weise der Entmythologisierung und sie kann dabei das, was hinter den Ereignissen steckt, literarisch und ästhetisch enthüllen. Bei der ersten Aufführung des Sportstücks in Yokohama im Frühling 2016 habe ich den Text, den sieben SchauspielerInnen auf Japanisch sprachen, sehr genossen. Sie haben die geschmackvolle, intelligent gesinnte Sprache anderthalb Stunden lang, auf dem breiten Hang auf der Bühne ununterbrochen hinauf- und hinunterlaufend, gesprochen. Der Intendant ist Motoi Miura, die Musik wird von Masahiro Miwa übernommen und die SchauspielerInnen gehören zur Gruppe Chiten (= der geographische Punkt) aus Kyoto. Sie haben auch 2012 KEIN LICHT in Tokyo aufgeführt. Voraussetzung für die Inszenierung von Jelineks Theaterstücken in Japan ist ein begabter Intendant, der weiß, was er aus dem betreffenden Theatertext herausfinden will und worauf er abzielen soll, und gute ÜbersetzerInnen innerhalb des Theaterkreises.

In diesem und auch anderen Zusammenhängen thematisiert Jelinek immer wieder weibliche Mittäterschaft (z.B.: Ulrike Maria Stuart, 2006, Das schweigende Mädchen, 2014). Wie würden Sie diese Auseinandersetzungen beurteilen?

Britta Kallin

Weibliche Mittäterschaft war und ist ein Teil von Jelineks Oeuvre vom Anfang bis heute. In allen Texten macht Jelinek die Frauen und Männer dafür verantwortlich, in welche Rollen sie sich jeweils über die Jahrtausende hineinmanövrierten und in denen sie nun verschiedenen Machtpositionen einnehmen, die Jelinek mit ihren Texten versucht aufzubrechen. Angefangen noch vor Die Klavierspielerin bis über Rechnitz zu Das schweigende Mädchen gibt es in allen Texten Jelineks Anspielungen und Untersuchungen der Geschlechterrolle der Frau als Helferin und Unterstützerin der machthabenden männlichen Akteure. Diese Auseindersetzung mit der weiblichen Mittäterschaft in Jelineks Werk ist eine der faszinierendsten und brillantesten Errungenschaften der deutschsprachigen feministischen Literatur und ermöglicht es vielen Frauen, sich mit ihrer Rolle in der Gesellschaft kritisch auseinanderzusetzen.

Keiko Nakagome

Elfriede Jelinek spricht oft von den „Komplizinnen“ im patriarchalen System und ihr notwendiges Misslingen darin. Die Erika-Mutter ist ein typisches Beispiel und Erika auch, wenn auch feministische LeserInnen solche Folgerung nicht wünschen. In Ulrike Maria Stuart (2006) stellt die Autorin die weibliche Mittäterschaft in einigen Schichten intertextuell dar. Ulrike Meinhof hat ihre Töchter, die Zwillingsschwestern, verlassen und auf ihre Erziehungsaufgabe verzichtet. Sie hat die beiden Schwestern Hippie-Kommunen in Frankreich und Italien anvertraut. Schließlich fanden sie Schutz bei der Internationalen Polizeilichen Organisation:

Mami,[...] Mit uns hast du dich niemals eingeschlossen, immer nur mit dieser Frau![...] Uns hast du immer ausgeschlossen, denn wir warn nicht deinesgleichen, wir warn unter dir, doch nicht als Unterdrückte. Jetzt siehst du selbst, was du an Nachteil davon hast: Du hast keine Kinder mehr, Medea. Denn wir besuchen dich nicht mehr, dies allerdings auf deinen ausdrücklichen Wunsch! Du bist jetzt Medea, die von ihren Kindern überlebt wird, recht geschieht ihr. Warum auf so schlimmen Weg vervolgtest du dein Ziel, Mami? Warum warst du immer abwesend, wenn wir dich brauchten? Warum hast du dich nicht um uns gekümmert? Warum? Warum nahmen unsre Unterhaltungen nie den gewünschten Verlauf?[2]

Die Worte der Wehklage, „Warum warst du immer abwesend, wenn wir dich brauchen?“ sind allgemeingültig für Working Mothers mit Kindern (auch für mich, meiner Erfahrung nach). Ich bin erstaunt über die Einsehenskraft der Autorin. Aber ja, Elfriede Jelinek war früher auch die/eine kleine Tochter einer Working Mother. Für die Schwestern war ihre Mutter Ulrike Meinhof die Königin und die Komplizin in der revolutionären Gruppe. „Nur von dem einen Herrn darf diese Königin in der Öffentlichkeit ihrer Gruppe angeherrscht werden [...] Mit blauen Augen dieser König, der im Wirklichkeit ein König, der im Wirklichkeit ein Kind ist [...].“[3] Andreas Baader als „der Kinderkönig“ sollte mit der um neun Jahre älteren Ulrike Meinhof gleichberechtigt sein, anders als der Prinz im Text Der Tod und das Mädchen II (Dornröschen) (2000), der die Prinzessin für sein Eigentum hält. Ulrike Meinhof galt offensichtlich als Mittäterin und ist im Leben gescheitert.

Andererseits sollten Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, die Andreas Baader, den König, geheiratet hat, einander Rivalinnen gewesen sein. Diesbezüglich stellt die Autorin die andere Rivalität zwischen Königin Elizabeth I und Königin Maria Stuart dar: „Die Königinnen haben immer Kinder, das gehört einfach dazu, sie brauchen einfach Nachfolger, die gleichzeitig noch dazu mit ihnen leben, damit sie, die Königinnen, was von ihnen haben.“[4] Königin Maria Stuart konnte in dem Punkt der Hegemonie Königin Elizabeth I nicht besiegen, aber sie wurde Stammmutter aller königlichen Familien in England bis zur Gegenwart, weil sie einen Sohn, James, als Nachfolger hatte. Die weibliche Mittäterschaft zu thematisieren nützt nicht nur der Entwicklung der Handlung, sondern auch der Messung der echten, authentischen Erhöhung des weiblichen Ranges und der Wahrnehmung, ob die Frauen Gleichberechtigung in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft im Allgemeinen tatsächlich erworben haben.

 

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  • Britta Kallin promovierte in Germanistik an der Universität von Cincinnati. Seit 2000 arbeitet sie an der School of Modern Languages des Georgia Institute of Technology, seit 2008 als Associate Professor of German. Spezialisiert auf zeitgenössische deutsche und österreichische Frauenliteratur und Theater. Autorin u.a. von The Representation of Roma in Elfriede Jelinek’s „Stecken, Stab und Stangl“, Marlene Streeruwitz's Novel „Nachwelt“ as Postmodern Feminist Biography sowie Die Feder führ ich unermüdlich. Helmina von Chezy's „Rosamunde“ as Intertext in Elfriede Jelinek's „Der Tod und das Mädchen III (Rosamunde)“.
  • Keiko Nakagome Studium der Germanistik und der Philosophie. Seit 2012 Professorin für Germanistik an der Daito-Bunka Universität, Tokyo. Buchveröffentlichung: Gender und Literatur. Blicke von Bachmann, Wolf und Jelinek (1996). Übersetzungen aus dem Deutschen u.a. von Kassandra und Vier Vorlesungen von Christa Wolf, Die Klavierspielerin, Lust (mit Rita Briel), Der Tod und das Mädchen I-V (Prinzessinnendramen), Das Lebewohl und zuletzt, gemeinsam mit Kazuko Okamoto und Tzuneo Sunag, Die Kinder der Toten von Elfriede Jelinek. Mitglied des Internationalen Forschungsgremiums des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums, Internationale Partnerin der Forschungsplattform Elfriede Jelinek.

Anmerkungen


[1] Lücke, Bärbel: Nachwort. Zu Bambiland und Babel. http://www.elfriedejelinek.com/ (28.12.2016), datiert mit 3.3.2005 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Vermischtes, 2004).

[2] Jelinek, Elfriede: Ulrike Maria Stuart. http://www.elfriedejelinek.com/ (28.12.2016), datiert mit 18.6.2005 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Theatertexte, 2005).

[3] Ebd.

[4] Ebd.