Dudu Kücükgöl
The Cast-off Gaze oder der gute alte „Colonial Gaze“
Frau wird nicht jeden Tag von einer akademischen Einrichtung gefragt, das Werk einer Literaturnobelpreisträgerin zu kommentieren. Die Anfrage der Forschungsplattform Elfriede Jelinek der Uni Wien, ihr Werk um intersektionale, feministische Ansätze zu ergänzen, fand ich spannend. Gespannt war ich auch, als ich den Text The Cast-off Gaze erhielt. Er behandelt den „Chador“ (den v.a. im Iran von Frauen getragenen Umhang) und in Folge auch den Schleier (englisch: „veil“). Dass Jelinek sich also explizit zu – einer – muslimischen Bekleidungsform geäußert hatte, war mir unbekannt. Neugierig begann ich den siebenseitigen Text zu lesen. Mit einem Mal war es natürlich nicht getan. Obwohl ich Englisch als Arbeitssprache benütze, war er zunächst schwer verständlich. Der für sie so typische Stil – mit Andeutungen, Gedankensprüngen, Doppeldeutigem, den auf dem ersten Blick nicht verständlichen gedanklichen Verknüpfungen, der Vermischung von wörtlich und weniger wörtlich Gemeintem – war auf Englisch eine noch größere Herausforderung. So las ich den Text einige Male, schlug Wörter nach, strich heraus und markierte Textstellen.
The Cast-off Gaze selbst ist ein Beitrag in dem Sammelband What does the veil know.[1] In einer Rezension über das Buch heißt es:
So schlägt sich das Wesen des Schleiers ganz unübersehbar im Buch nieder. Es ist voller Momente des Verbergens, Verhüllens und Versteckens. Neben, in und zwischen den Texten sind Bildstrecken mit Masken, Schattenbildern, seitenweise chinesische Zeichen, ein Drehbuch, eine Art Text-Foto-Gedicht. Und im Zentrum all dessen ist stets das fundamentale Nichtverstehen. Es ist die Tragik von Wissen, das im Dunkeln verborgen bleibt.[2]
Im Zentrum des Buches steht also „das fundamentale Nichtverstehen“. Ich frage mich: Wo auf dieser Welt wäre es denkbar, dass eine Gruppe Unwissender, die eigene absolute Ahnungslosigkeit auch noch stolz in einem Buch als Kunstprojekt zelebriert? Wo außer genau in dieser Welt, wo eine europäische Sichtweise als das Maß aller Dinge gilt? Wo sogar das Unwissen Europas als Wissen in Büchern Platz findet? Welche Menschen würden sich sonst anmaßen, die eigene Ignoranz und Arroganz auch noch stolz als Sammelband herauszugeben? Denn: Wenn man schon Mittel und Energie aufbringt ein gesellschaftlich viel diskutiertes Thema anzugehen: Warum bittet man nicht jene zu Wort, die sich auskennen? Frauen mit Kopftüchern leben nicht mehr in fernen Ländern wie vor 100 Jahren, sie sind hier. Sie sind mehr als fähig über sich selbst zu sprechen. Von welchem „Verbergen, Verhüllen und Verstecken“ ist also die Rede? Müssten wir nicht eher über unseren Umgang mit ihnen sprechen und warum wir den betroffenen Frauen nicht zuhören und Glauben schenken können?
Die Besessenheit mit dem Schleier der muslimischen Frau
Der Text Jelinkes beginnt mit Beobachtungen über Frauen im Iran. Es folgt ein Gedankenspiel ihrerseits mit einem Gesichtsschleier und später geht es um die Vollverschleierung von zwei österreichischen Schulmädchen. Bereits beim ersten Lesen schlich sich ein Gefühl ein, dass sich jedes weitere Mal verstärkte: Ich war enttäuscht. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte – aber zumindest etwas anderes als das, was es schon seit Jahrhunderten gibt, nämlich: den verächtlichen Blick einer Europäerin. Eine leise Stimme in mir meldete sich zu Wort: „Jelinek ist eben auch nur eine weiße[3] Frau.“
Die Ethnologin Marion Baumgart analysiert in ihrem Buch Wie Frauen Frauen sehen (1989) den Blick westlicher Forscherinnen auf arabische Frauen. Sie stellt fest, dass das Bild, das westliche Wissenschaftlerinnen in ihren Arbeiten von orientalischen Frauen entwerfen, von europäischen Weiblichkeitsbildern geprägt ist – von „Neutralität“ also keine Spur:
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es einige Themenbereiche gibt, – Harem, Schleier, Polygamie und die Frage nach der gesellschaftlichen Stellung der arabischen Frauen – die seit fast hundert Jahren immer wieder das Interesse der westlichen Forscherinnen auf sich ziehen. Deren Interpretation, wie auch die Problematisierung anderer Themenkomplexe, ist abhängig von den jeweilig (in ihren Herkunftsländern) aktuell geführten Diskussionen um Weiblichkeit.[4]
Vorweg: Ich bin keine Iran-Expertin und ich halte natürlich nichts von der Vermischung von religiöser und staatlicher Autorität. Die Demokratie und die Trennung von Staat und Religion sind unabdingbar für ein friedliches Zusammenleben von Menschen aller Weltanschauungen. Wenn ich hier im Text Jelinek kritisiere, dann nehme ich nicht den Iran oder sein Staatsverständnis in Schutz, sondern ich kritisiere Jelineks Art und Weise über das Kopftuch zu schreiben. Es ist in diesem Beitrag nicht der Platz und Rahmen gegeben, den gesamten Text zu analysieren, das würde den Rahmen sprengen. Deshalb werde ich einige Textstellen für den Stil, der mich stört, exemplarisch anführen.
In der Beschreibung des Irans und der Frauen ist es immer dieser typisch „westlich“ exotisierende Blick auf den Orient – als müsste noch etwas entdeckt, als würden auch noch im Jahre 2017 Märchen aus 1001 Nacht erzählt werden. Wenn Jelinek etwa im ersten Absatz in betont sinnlicher Sprache über die Frauen in Teheran schreibt: „sometimes skintight-jean legs of young women“, „soft paste-colored chiffon scarves“, “swirl about them like cascading water“[5].Der Text wirkt stellenweise wie die moderne Version von früher populärer, europäischer Reiseliteratur, in der europäische HeldInnen sinnliche Abenteuer im Orient erleben und mit viel Phantasie niedergeschrieben haben. Damals fanden EuropäerInnen Reiseberichte aus fernen, „exotischen“ Ländern sehr spannend. Es erregte sie durch die Brille eines anderen Europäers über „fremde“ Kulturen zu erfahren. Sie fanden sich dadurch in ihrer eigenen Überlegenheit und ihrer zivilisatorischen Fortschrittlichkeit bestätigt.
„Das ist der Orient der Bücher, von denen pro Minute eine Million gedruckt werden! Doch es gab weder gestern, noch gibt es heute so einen Orient und es wird ihn auch morgen nicht geben!“[6] schrieb der türkische Dichter Nâzim Hikmet 1925 in einem Gedicht, das er dem orientalistischen Schriftsteller Pierre Loti widmete. Und Nâzim Hikmet hat fast 100 Jahre danach mit diesen Zeilen auch noch Recht. Diese „Besessenheit“ unbedingt „hinter den Schleier blicken” zu wollen, zieht sich durch Jelineks Text durch, wenn sie immer wieder über „concealment“, unconcealment, „see behind“, „total hinding“ usw. schreibt. Ein Geheimnis dahinter vermutend, versucht sie auf immer neue Art und Weise sich dem Schleier zu nähern. Zurück bleibt für mich der schale Beigeschmack des „Colonial Gaze“, den Yegenoglu in ihrem Werk Colonial Fantasies: towards a feminist reading of Orientalism beschreibt: „It is no surprise that there are countless accounts and respresentations of the veil and veiled women in Western discourses, all made in an effort to reveal the hidden secrets of the Orient.”[7] Yegenoglu beschreibt die Fixierung auf den Schleier:
The veil gives rise to a meditation: if they wear a mask, or masquerade or conceal themselves, then there must be a behind-the-mask, a knowledge that is kept secret from us. The mystery that is assumed to be concealed by the veil is conconcealed by giving a figural representation to this mask and to the act of masquerading as an enigmatic figure. However, what is thus unconcealed, i.e. the “masquerade”, the “veil”, is the act of unconcealement itself. The veiled existence is the very truth of Oriental women; they seem to exist always in this deceptive manner.[8]
Verschleierung und Kontrolle
Jelinek macht aber auch interessante Bezüge in Nebensätzen. Wenn sie über das Verschleierungsgebot im Iran schreibt: „As a form of control, concealment (for unconcealment can supposedly strip men of such control, which is why concealment is a law, much like blacking out during the war) works by prohibiting all diversity of how a woman represents herself.”[9] Sie vergleicht die Notwendigkeit der Verhüllung der Frau zur Wahrung von männlicher Kontrolle und somit die „Gefahr“ der entschleierten Frau mit der Gefahr einer Bombe im Krieg.
Jelinek gibt vor, die Gedanken der Männer niederzuschreiben, die Verschleierungsgebote durchsetzen. Also bleiben wir in dieser Denke: Frauen müssten sich verhüllen, damit Männer die Kontrolle behalten. Aber was heißt das für Frauen, die dazu gezwungen werden, sich zu entschleiern? Wenn in Deutschland und Österreich, aber auch vielen anderen Ländern Europas hauptsächlich Männer Gesetze vorschlagen und durchsetzen, um muslimische Frauen zwangsweise auszuziehen? Worum geht es dann beim Zwang zum Ausziehen? Darum, das Ego des Mannes zu streicheln und zu beweisen, dass er kein barbarischer Vergewaltiger ist? Dafür brauchen wir Kopftuchverbote? Es ist interessant, dass die Männer, die Kopftuchgebote oder -verbote fordern, sich in der gleichen Denke bewegen. Der Antiislam-Hetzer Hamed Abdel-Samed, der gerne als Experte zitiert und als „Kronzeuge“ gegen MuslimInnen eingeladen wird, schreibt in einem jüngst veröffentlichten Artikel: „Das Kopftuch bedeutet schlicht und ergreifend: Die Frau ist ein Sexobjekt und darf den Mann nicht ablenken. Das ist eine Erniedrigung der Frau und des Mannes gleichzeitig!“[10]
Ich fasse zusammen: Der eine Mann will die Kontrolle nicht verlieren, wenn er eine Frau ohne Kopftuch sieht. Der andere Mann fühlt sich beleidigt, wenn er eine mit Kopftuch sieht. Aber möchten wir uns wirklich nur in diesen verbohrten und männlich geprägten Diskursblöcken bewegen? Mich als Frau interessiert es schlicht und einfach nicht, was Männer über meine Kleidung denken. Ich möchte mich nicht aus deren Perspektive sehen und erklären müssen als seien sie das Maß aller Dinge. Ich möchte nicht einmal wissen, was Männer über die Kleidung von Frauen denken, weil sie sich meiner Meinung nach dazu ungefragt gar nicht äußern sollen. Die Fixierung auf die Kleidung von Frauen ist ein Merkmal sexistischer und patriarchaler Diskussionen – das brauche ich weder im Iran noch in Österreich.
Unser historisches Kurzzeitgedächtnis: Das Kopftuchverbot im Iran
Während in Diskussionen oft der Begriff „Kopftuchzwang“ aufgeworfen und auf den Iran verwiesen wird, ist es interessanterweise fast völlig unbekannt, dass es vor dem Kopftuchgebot, das 1979 eingeführt wurde, ein Kopftuchverbot gab.[11] 1937 und damit über 40 Jahre vor der Einführung des Gebots, verbot der von den Briten unterstützte Shah Reza nach Atatürks Vorbild das Kopftuch in der Öffentlichkeit. Das vorgegebene Ziel war, das Land zu europäisieren, zu modernisieren. Heraus kam die Etablierung einer sozialen Ordnung, in der westlich orientierte Eliten das Land dominierten, während der Großteil der Bevölkerung in Armut lebte. Viele iranische Frauen gingen in dieser Zeit jahrelang nicht auf die Straße.[12] Verstöße gegen das Verbot wurden polizeilich geahndet, Frauen wurden die Tücher vom Kopf gerissen.
Das Ablegen der gewohnten Kleidung unter Zwang war für viele Frauen im Iran sehr entwürdigend und ein unglaublich starker Eingriff in die Privatsphäre. Während Frauen der Oberschicht und aus dem Umfeld der herrschenden Familie in französischer Mode prahlend nach vorne geschickt und gefeiert wurden, gingen andere Frauen gar nicht mehr aus dem Haus oder beugten sich aus Not heraus dem Zwang. Als Shah Reza 1941 abdankte und sein Sohn an die Macht kam, legten vor allem Frauen der Unterschicht demonstrativ wieder ihre Kopftücher an.[13] Das Verbot wurde gelockert. Das Land war in Wirklichkeit nicht gespalten wegen der Haltung zu Europa oder dem Islam, sondern aufgrund der sozialen Ungerechtigkeit zugunsten einer kleinen, reichen und europäisch gestützten Elite.
Interessant ist, wie sehr wir in aktuellen Diskursen unter einem historischen Kurzzeitgedächtnis leiden, indem vergessen wird, dass das Kopftuch zuerst von seinen Gegnern durch ein Verbot und danach von seinen Befürwortern durch ein Gebot zu einem politischen Statement gemacht wurde –nicht aber von seinen Trägerinnen.
„Die nicht-islamische Welt, der Rest der Welt“
Ein weitere problematische Textstelle ist jene, in der Jelinek noch auf der erste Seite des Textes andeutet, iranische Frauen hätten wegen ihrer Bedeckung keine Möglichkeit sich unterschiedlich zu repräsentieren – als würden die Frauen alle gleich aussehen oder in Uniformen herumlaufen.[14] Leider zeugt auch diese Aussage von großer Ignoranz. Nicht alle Frauen im Iran tragen den schwarzen Chador. Gerade junge Frauen tragen stylische, moderne Kleidung kombiniert mit unterschiedlichen Kopftuchbindearten. Der Vorwurf des gleichen Aussehens, der hier mitschwingt, erinnert leider ein bisschen an den rassistischer Diskurse.
Auf der zweiten Seite des Aufsatzes konzentriert sich Jelinek auf die Gesichter der Frauen und schreibt über die im Iran stark verbreiteten Nasen-Operationen. Sie meint, dass die Frauen das Einzige, was von ihnen sichtbar ist, durch chirurgische Eingriffe versuchen gleich zu machen: „these faces want to be like all the other faces of the non-Islamic world, the rest of the world: there’s no doubt, Iranian cosmetic surgeons are excellent and have made nose jobs their speciality. Their ideal is the small Western nose.“ [15] An diesem kurzen Textteil ist einfach so vieles falsch, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen oder aufhören soll. Jelinek deutet an, iranische Frauen würden – wenn sie schon nicht ihre Kleidung anpassen können – ihre Gesichter an die „nicht-islamische Welt, den Rest der Welt“ anpassen. Ich frage mich, welches sind die Gesichter der „nicht-islamischen Welt“? Wie sehen die Gesichter und Nasen im „Rest der Welt“ aus? Danach konkretisiert sie, welche Gesichter sie meint: jene mit der „kleinen, westlichen Nase“. Den Begriff „westliche Nase“ habe ich vermutlich das erste Mal gelesen, aber er verrät so viel darüber, wo die Autorin selbst verortet ist ohne es sich bewusst zu sein. Für die Autorin ist die „nicht-islamische Welt“ gleichzusetzen mit dem „Rest der Welt“ und dieses ist der Westen. Als hätten alle Frauen im „Westen“ kleine Stupsnasen und als gäbe es keine anderen geographischen Regionen außer Westeuropa und Nordamerika.
Es scheint, als wären all die Diskurse rund um „white standards of beauty“[16], die Kritik an normierten Frauenkörpern und an rassistischen Schönheitsidealen spurlos an Jelinek vorbeigegangen. In Jelineks Text wirkt es, als würden iranischen Frauen bewusst „westliche/nicht-islamische Nasen“ haben wollen, wenn sie sich schon nicht westlich kleiden können. Dabei werden Frauen auf der ganzen Welt durch industriell vorangetriebene Ideale unter Druck gesetzt, ein Aussehen anzustreben, das nicht einmal für die Mehrheit der westeuropäischen Frauen erreichbar ist.
Besonders abschätzig und problematisch finde ich, wie Jelinek die Frauen im schwarzen Chador beschreibt: „plot of earth, an [sic] MBO, a moving black object” oder : „In passing, you do not see anything that might be right, not even something that fits well.“[17]
„Für mich persönlich, wäre ein Schleier gar nicht so schlecht“
Danach schreibt Jelinek einen Absatz darüber, wie sie den Schleier sieht:
[…] for me, the veil – which is unfortunately (I’m unable to do otherwise!) I must regard as a constraint, as I said, I am unable to see the veil otherwise, because I am unable to see behind it, which is what I am always trying to do – for me, personally, the veil would not be that bad. I would not mind having one. Maybe because in my case there is nothing behind it?[18]
Die Aussagen sind sehr irritierend: Ich kann das Kopftuch nur als einen Zwang sehen, weil ich nicht dahinter sehen kann. Aber wenn ich das Kopftuch trüge, wäre es nicht so schlimm, denn ich verstecke nichts dahinter.
Jelineks Aussagen sind alles andere als logisch und der Text könnte einer der orientalistischen Beispieltexte aus Yegenoglus Colonial Fantasies sein. Diese Fixierung auf und die Besessenheit mit der Kleidung der muslimischen Frau sind nicht neu, die Assoziationen jahrhundertealt und reichen in die Kolonialzeit zurück. Gleich nach den obigen Sätzen schreibt Jelinek über ihre Wut, wenn sie angestarrt und mit Blicken geprüft wird und mit welcher Brutalität sie gegen jene vorgehen wollen würde, die sie mit ihren Blicken prüfen. Es scheint als würde sie den verschleierten Frauen übel nehmen, dass sie sehen können ohne selbst gesehen zu werden oder wie Yegenoglu beschreibt:
Erecting a barrier between the body of the Oriental woman and the Western gaze, the opaque, all-encompassing veil seems to place her body out of the reach of the Western gaze and desire. Frustrated with the invisibility and inaccessibility of this mysterious, fantasmatic figure, disappointed with the veiled figure’s refusal to be gazed at, Western desire subjects this enigmatic […] to a relentless investigation.[19]
Warum wird eigentlich hinter dem Schleier der muslimischen Frau ein Geheimnis, ein Rätsel oder etwas Gefährliches vermutet und nicht einfach ein Körper? Ist es so unvorstellbar, dass eine Frau sich das Recht nimmt, ihre körperlichen Grenzen selber zu ziehen, um selber zu entscheiden, wie viel von ihrem Körper für andere sichtbar ist oder nicht? Gerade wenn Jelinek sehr emotional und wütend über Blicke schreibt: „I want to sink my teeth into everything around me like a rabid dog, when a stranger’s gaze focuses on me“[20]. Ist es so unverständlich, dass Frauen sich bewusst entscheiden, nicht sexy und nicht körperbetont aufzutreten? Und nur weil wir jede Form von Kleidung mit fremden Blicken in Verbindung bringen, müssen das die Frauen auch tun? Ist es unmöglich, dass Frauen einen Schleier einzig und allein als religiöse Praxis tragen, ohne sich mit den Blicken von Fremden zu beschäftigen?
Ich glaube, es ist Zeit für den Colonial Gaze in den Spiegel zu sehen. Seit Jahrhunderten ist der Blick auf die Muslimin fixiert mit der Frage, was sich dahinter verbirgt. Aber was versteckt sich hinter den Augen des Blickenden? Warum ist der Anblick einer bedeckten Frau so frustrierend und unerträglich, dass er sie sogar mit Zwang ausziehen will? Mit jeder Aussage über den Schleier der muslimischen Frau beschreibt der Colonial Gaze nicht sie, sondern eigentlich sich selbst.
- Dudu Kücükgöl geboren 1982 in Ankara und aufgewachsen in Niederösterreich. Studium der Wirtschaftspädagogik an der Wirtschaftsuniversität Wien, Diplomarbeit zum Thema „Gender Mainstreaming in parteipolitischen Organisationen". Aktuell arbeitet sie an ihrer Dissertation zum Thema „Postkoloniale feministische Theorien und die Darstellung muslimischer Frauen in öst. Medien“ (Arbeitstitel). Neben Studium und Beruf war sie ehrenamtlich 15 Jahre in der Muslimischen Jugend Österreich aktiv, war daneben Vorsitzende der Bundesjugendvertretung und Mitbegründerin des MiA-Awards (ein Preis für besonders erfolgreiche Frauen mit internationalem Hintergrund). Sie arbeitet als selbstständige Unternehmensberaterin und Referentin mit den Schwerpunkten Diversität, Muslime in Europa, Integration, Rassismus & Sexismus, postkoloniale Theorie und Feminismus und veröffentlicht auch immer wieder Gastkommentare zu diesen Themen.
Anmerkungen
[1] Liska, Vivian / Meyer, Eva: What does the veil know? Zürich: Edition Voldemeer 2009.
[2] Haeming; Anne: Undurchdringliche Fasern. In: TAZ; 26.2.2010. http://www.taz.de/!5146908/ (27.2.2017) (= Website der TAZ).
[3] Die Farbe weiß wird in diesem Text kursiv geschrieben, um zu signalisieren, dass es dabei nicht unbedingt nur um eine Hautfarbe geht, sondern um ein Mindset, das sich der eigenen, subjektiven und privilegierten Position nicht bewusst ist. Es geht um soziale Kategorien und Zuschreibungen, die über Inklusion und Exklusion in unserer Gesellschaft entscheiden. Manche von Rassismus betroffene Personen versuchen Rassifizierung möglichst zu vermeiden wie z.B. durch Änderung des Namens, der Religion oder äußerliche Anpassung (soweit es möglich ist. Aber auch hier gibt es Grenzen wie die Hautfarbe).
[4] Baumgart, Marion: Wie Frauen Frauen sehen. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 1989, S. 89. Zitiert nach Braun, Christina von / Mathes, Bettina: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen. Berlin: Aufbau-Verlag 2007, S. 211f.
[5] Jelinek, Elfriede: The Cast-off Gaze. In: Liska / Meyer: What does the veil know, S. 19-25, hier S.19.
[6] Nâzım Hikmet: Die Luft ist schwer wie Blei. Berlin: Dagyeli Verlag, 2000, S.8.
[7] Yegenoglu, Meyda: Colonial Fantasies: Towards a Feminist Reading of Orientalism. Cambridge: Cambridge University Press 1998, S. 39.
[8] Ebd. S. 44.
[9] Jelinek, Elfriede: The Cast-off Gaze, S. 19.
[10] Abdel Samad, Hamed: Das Kopftuch ist eine Erniedrigung der Frau. http://www.theeuropean.de/hamed-abdel-samad/11795-die-frau-als-sexobjekt (27.2.2017), datiert mit 8.2.2017 (=The European. Das Debattenmagazin).
[11] Zum Kopftuchverbot im Iran vgl.: N. N.: Kashf-e hijab. https://en.wikipedia.org/wiki/Kashf-e_hijab (27.2.2017), datiert mit 27.9.2016 (= Wikipedia).
[12] Vgl.: N. N.: 29. Mai 2006 – Vor 70 Jahren: Kopftuchverbot im Iran. http://www1.wdr.de/stichtag/stichtag2368.html (27.2.2017), datiert mit 29.5.2006 (= Westdeutscher Rundfunk).
[13] Mayer, Tobias: Emanzipation unter Zwang. http://www.deutschlandfunk.de/emanzipation-unter-zwang.871.de.html?dram:article_id=127204 (27.2.2017), datiert mit 7.1.2011 (= Deutschlandfunk).
[14] Vgl.: Jelinek, Elfriede: The Cast-off Gaze, S. 19.
[15] Ebd., S. 20.
[16] Eine kurze Google-Recherche zu „white standards of beauty“ ist völlig ausreichend um sich ein Bild über die Schäden von einseitigen und für die meisten Frauen auf der Welt unerreichbaren Schönheitsidealen zu machen, die durch die Film- & Schönheitsindustrie weltweit verbreitet werden.
[17] Jelinek, Elfriede: The Cast-off Gaze, S. 21.
[18] Ebd.
[19] Yegenoglu, Meyda: Colonial Fantasies, S. 39.
[20] Jelinek, Elfriede: The Cast-off Gaze, S. 22.