Britta Kallin, Keiko Nakagome
Internationale Perspektiven auf Jelinek und Gender
Fragen zur Theorie
Welche Auswirkungen hat der Schritt vom Feminismus zu den Gender Studies in Bezug auf Elfriede Jelinek?
Britta Kallin
Für Elfriede Jelinek gibt es keinen einzelnen Schritt vom Feminismus zu den Gender Studies, sondern Jelinek hat in ihren Arbeiten, Essays, Stücken, Kommentaren diesen Wandel in den universitären Disziplinen und der Umbenennung und Neukonzeptionalisierung dieser Forschungsrichtungen über Jahrzehnte mit möglich gemacht. Der Fokus auf die Situation von Frauen in den ersten Frauenbewegungen war notwendig, um den nächsten Schritt zu machen, der nicht nur die Rolle der Frau, sondern auch die Rolle des Mannes untersucht und analysiert, nämlich wie das männliche Subjekt in unserer derzeitigen Gesellschaft zu funktionieren und sich einzugliedern hat und worauf es zu verzichten hat. Gender Studies haben sich seither zu einer weitreichenden, interdisziplinären Disziplin entwickelt, die es Akademikern und nicht-Akademikern erlaubt, die Rolle von Gender aber auch von Rasse/Ethnie, Klasse/Schicht, Religion, Hautfarbe, nationaler Zugehörigkeit etc. in einem großen Kontext von Identitäts-Markern zu untersuchen und Schlüsse über die Stärken und Schwächen unseres westlichen Gesellschaftssystems zu ziehen, die Elfriede Jelinek auf künstlerische Art und Weise mit einer mikroskopischen Genauigkeit darstellt und wie einen Organismus seziert.
Keiko Nakagome
Elfriede Jelinek hat als Feministin eine jüngere Heldin, Erika Kohut, für den Roman Die Klavierspielerin (1983) gewählt. Diese hat den Wunsch, von einem Mann geliebt zu werden, wie das Ich aus dem Roman Malina (1973) von Ingeborg Bachmann. Das Ich möchte ihren Geliebten Ivan sehen, wann sie will. Aber das geht nicht, weil Ivan Kinder hat oder weil sie von ihrem vernünftigen Doppelgänger Malina zurückgehalten wird. Erika wird von ihrer Mutter gehindert, schöner zu sein, um ihrem möglichen Geliebter zu begegnen. Ihre Mutter ist Inkarnation, Inquisitorin und Erschießungskommando in einer Person. Jelinek bewundert Bachmanns Methode der sexuellen Transformation/Perversion als Metapher, aber sie manifestiert ihre eigene, andere Methode der sexuellen Transformation bei Erika. Die Autorin stellt Erika als die Frau dar, die sich männlich verhält. Weil Erikas Mutter als Komplizin des patriarchalischen Staates von Anfang an vermännlicht ist, schildert die Autorin Erika als ein Tier und ihre Mutter als den Dompteur. Die Autorin dekonstruiert den Körper der Frau auf diese Weise. Die Heldin Gerti im Roman Lust leidet als Hausfrau unter dem Leben, das die auf Sexualität konzentrierte Gewalt begleitet. Indem sie ihren Sohn mordet, werden der Diskurs Mutterliebe und der pornographische Diskurs dekonstruiert. Die Autorin als Feministin hat die ungleichberichtigen weiblichen Verhältnisse in den Vordergrund gedrängt. Sie spricht über das Sprechen für die Frau in dem Interview mit Anke Roeder: „Wie ja auch die Bachmann in ihrem Roman Malina literarisch modellhaft ausführt, muß die Frau, will sie sprechen, ein männliches Ich ausüben. Das weibliche Sprechen ist, will man es psychoanalytisch ausdrücken, eine phallische Anmaßung, etwas, das für sie eben nicht vorgesehen ist [...].“[1] Wenn man diese Verhältnisse des weiblichen Sprechens ernst nimmt, kann man sich auch vorstellen, dass diese Position dem weiblichen Schreiben, mit dem sich auch Christa Wolf intensiv auseinandergesetzt hat, ähnlich ist, das heißt also, das weibliche Schreiben ist auch eine phallische Anmaßung. Das ist großartig, dass diese Autorinnen als Feministinnen allgemeingültige große oeuvres littéraires hinterlassen.
Wenn die jüngeren Texte von Elfriede Jelinek zum Gegenstand der Gender Studies werden, sollten diese Texte nicht mehr nur auf feministisch gesinnte Leserinnen, sondern auch auf männliche Leser Auswirkungen haben. Heutzutage haben auch die Männer Interesse an den Problemen des Humanismus, der Menschenrechte und der Religion und sie werden, ohne Angst vor dem möglichen Angriff von Seiten der FeministInnen, die Werke der Autorin rezipieren können.
Welche gender- und queertheoretischen Ansätze sind Ihnen bekannt, die für Jelineks Texte fruchtbar sein können?
Britta Kallin
Um die Intersektionalitäten in Jelineks Texten deutlich zu machen, könnten Vorstellungen von Nation, Rasse bzw. Ethnizität, Religion, Gender, Behinderung etc. und deren Vernetzungen durch Queer Studies und Disability Studies Ansätze deutlich gemacht werden. Folgende Texte könnten Licht auf Jelineks Gesellschaftskritik scheinen:
Eve Sedgwick: Touching Feeling: Affect, Pedagogy, Performativity (2003)
Clare Hemmings: „Invoking Affect: Cultural Theory and the Ontological Turn“ in Cultural Studies (2005)
Judith/Jack Halberstam, In a Queer Time and Space (2005)
Sianne Ngai, Ugly Feelings (2005)
Jasbir K. Puar, Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times (2007)
José Esteban Muñoz, Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity (2009)
Keiko Nakagome
Methoden des Poststrukturalismus, vor allem Jacques Derridas Déconstruction, können zum Zusammenbruch der Verhältnisse von Überlegenheit und Minderwertigkeit von binären Begriffen beitragen. In diesem Verhältnis stehen sich der dominante Begriff, der den männlichen Wert repräsentiert, und der minderwertige Begriff gegenüber. In der Queer-Theorie wird dieser Gegensatz vernichtet oder die beiden Begriffe sind gültig je nach Sex, Gender und Rasse. Die Definition in der Queer-Theorie soll von einem bestimmten, wesentlichen Begriff freihalten werden. In diesem Sinne hat zum Beispiel FaustIn und out. Sekundärdrama zu Urfaust (2011) gender- und queertheoretischen Ansätze, wie ich bei der zweiten Frage von Ästhetik erwähne, vor allem dadurch, weil dieser Theatertext darauf abzielt, inkonsequent zu sein. Diesbezüglich, weil Elfriede Jelinek bemerkt hat, dass die letzte, wichtigste Zeile in Goethes endgültiger Fassung von Faust I: „STIMME (von oben): Ist gerettet!“ [2] im Urfaust fehlt, schafft die Autorin die Geschichte eines Mädchens, das im Keller wohnen musste, also weder im Himmel noch auf der Erde. Die Autorin schildert die Geschichte, deren Modell der Fall in Amstetten ist, bald sehr kritisch, bald eben humoristisch dekonstruierend. Das Stück finde ich schon literarisch fruchtbar.
HIER GEHT ES WEITER:
Britta Kallin, Keiko Nakagome:
Fragebogen: Ästhetik
Fragebogen: Politik
Fragebogen: Körper
Fragebogen: Religion
- Britta Kallin promovierte in Germanistik an der Universität von Cincinnati. Seit 2000 arbeitet sie an der School of Modern Languages des Georgia Institute of Technology, seit 2008 als Associate Professor of German. Spezialisiert auf zeitgenössische deutsche und österreichische Frauenliteratur und Theater. Autorin u.a. von The Representation of Roma in Elfriede Jelinek’s „Stecken, Stab und Stangl“, Marlene Streeruwitz's Novel „Nachwelt“ as Postmodern Feminist Biography sowie Die Feder führ ich unermüdlich. Helmina von Chezy's „Rosamunde“ as Intertext in Elfriede Jelinek's „Der Tod und das Mädchen III (Rosamunde)“.
- Keiko Nakagome Studium der Germanistik und der Philosophie. Seit 2012 Professorin für Germanistik an der Daito-Bunka Universität, Tokyo. Buchveröffentlichung: Gender und Literatur. Blicke von Bachmann, Wolf und Jelinek (1996). Übersetzungen aus dem Deutschen u.a. von Kassandra und Vier Vorlesungen von Christa Wolf, Die Klavierspielerin, Lust (mit Rita Briel), Der Tod und das Mädchen I-V (Prinzessinnendramen), Das Lebewohl und zuletzt, gemeinsam mit Kazuko Okamoto und Tzuneo Sunag, Die Kinder der Toten von Elfriede Jelinek. Mitglied des Internationalen Forschungsgremiums des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums, Internationale Partnerin der Forschungsplattform Elfriede Jelinek.
Anmerkungen
[1] Roeder, Anke: Überschreitungen. Gespräch mit Elfriede Jelinek (1996). https://jelinektabu.univie.ac.at/moral/das-begehren-der-frau/anke-roeder/ (28.12.2016) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).
[2] Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 3: Dramatische Dichtungen 1. Hg. von Erich Trunz. München: DTV S. 365.