Agnieszka Jezierska & Monika Meister

Vom Ort des Sprechens – Über Tiere im Theater

Ein E-Mail-Wechsel

 

Betreff: "Über Tiere"
Von:
Monika Meister
Datum: 9.1.2017
An: Agnieszka Jezierska

Wenn wir davon ausgehen, dass Elfriede Jelineks Text Über Tiere nicht ein Text über die Liebe ist, sondern ein Text über das Sprechen über die Liebe, dann stelle ich (mir) die Frage, woraus dieses Sprechen besteht, wie es gemacht ist und welche Diskurse es berührt bzw. umfasst. Wie kommt das Begehren hier zum Ausdruck und welche Sprache wird gesprochen? Wem gehört dieses Sprechen. „Lieben ist eine bestimmte Art von Angewiesensein, mein sonderbarer Herr.“[1] So beginnt der Text Über Tiere mit einer Anrede an den Herrn, den sonderbaren und er wird enden mit der Anrede an Jesus, „Ja, mein Jesus, natürlich. Ja, natürlich, Ja, natürlich. Natürlich.“
Jesus und die Natur, der Leib, der Leibhaftige, der ausgetrieben werden soll.
Im Text kommen die vielschichtigen Ebenen der Ekstase, des Außer-Sich-Seins der Liebesformen zur Sprache, zum Sprechen. Also: Wer spricht hier?
Mir scheint, dass auch in diesem Text Jelineks die Differenz von Sprache und Sprechen virulent ist und damit für die szenische Transformation von Interesse.
Was denken Sie dazu?
Das weibliche Begehren ist die Leerstelle, die Sprache ist eine des „Herrn“, geliehen von dokumentarischem Material, genauer Abhörprotokollen. Wo befindet sich der Ort des Sprechens?

Betreff: Re:"Über Tiere"
Von:
Agnieszka Jezierska
Datum: 14.1.2017
An: Monika Meister

Liebe Kollegin,
­ich stimme mit Ihren Thesen überein, Jelinek hat mehrmals auf die fehlende weibliche Sprache in Bezug auf Erotik und Begierde hingewiesen. Dasselbe betrifft die Liebe, die in dem Text als Vorstellung destruiert wird. Der Unterschied wäre dabei der fehlende Glaube Jelineks an die Liebe an sich, denn „nichts ist möglich zwischen den Geschlechtern.“ Obwohl in Über Tiere zu Anfang eine Frau spricht, ist das Sprechen keine eigentliche weibliche Sprache. Da im ersten Teil Mörikes Verborgenheit als eine Matrix fungiert, wirkt die Aussage der weiblichen Stimme unauthentisch, mit kursierenden Diskursen über Liebe bestätigt und legitimiert das sprechende Ich dieses Phänomen. Das Wort „Liebe“ kommt im ersten Teil immer wieder vor (im zweiten ist das kein Leitmotiv mehr), auch die von Mörike entlehnten Alliterationen mit dem Buchstaben „l“ („lass o Welt, o lass“, „liebes Licht“) und Jelineks Zusammenstellungen (wie etwa „liebesdurstigen Lippen“) verstärken die Wirkung dieses Vokabels. Aber gerade durch den Klang werden die ZuschauerInnen/LeserInnen auf die Künstlichkeit des Gesagten aufmerksam gemacht. Das extatische Ende des zweiten Teiles, wo das Körperliche verdrängt und vernichtet werden soll, steht im krassen Widerspruch zu den Aussagen der Kunden, die weibliches Fleisch „wie ein Stück Pizza bestellen“ und das Wort „Charakter“ nur scherzhaft bzw. verkehrt benutzen. Auf der anderen Seite korrespondiert das Ende mit dem ersten Teil, wo das Idealistische und Metaphysische zum Ausdruck kommt. Die zwei Diskurse: der literarisch-religiös-metaphysische und der der Aussagen der Kunden wirken besonders pessimistisch, denn beide arbeiten auf eine künstliche Natürlichkeit hin, d.h. einen Sachverhalt, der, obwohl eindeutig konstruiert, als natürlich abgestempelt wird und dadurch seine Wirkungskraft und Legitimation gewinnt. Der erste Satz mit „eine[r] bestimmte[n] Art von Angewiesensein“ mündet in den letzten, in dem jegliche Modalität ausgeblendet wird und die Wiederholungen von „Ja“ und „natürlich“ einen Teufelskreis bilden.
Zurück zu Ihrer letzten Frage „Wo befindet sich der Ort des Sprechens?“ glaube ich, dass dieser Ort nicht kohärent ist, eher eine Resultierende aus den durch die Pop- und Hochkultur vermittelten Klischees und der gesellschaftlichen Zustimmung für gewisse Praktiken (im zweiten Teil und auch in der Fortsetzung zu den Sexboxen in der Schweiz[2]). Im Moment habe ich leider keine eindeutige Antwort parat, es ist eher eine Intuition.
Ich würde auch gerne mehr über Ihre Unterscheidung zwischen Sprache und Sprechen erfahren, ist es so, dass Sie Sprache als ein Reservoir an Diskursen bzw. ein System, das erst das Sprechen möglich macht verstehen und das Sprechen als einen Akt des Sprechens, eine konkrete Aussage?
Mit ganz herzlichen Grüßen aus Polen
Agnieszka Jezierska

Betreff: "Über Tiere"
Von: Monika Meister
Datum: 21.1.2017
An: Agnieszka Jezierska

Liebe Kollegin,
der Ort des Sprechens ist nicht kohärent, das würde ich auch so denken, er verschiebt sich permanent, nimmt unterschiedliche Perspektiven ein, sowohl den imaginierten Bühnen-Raum als auch den Text-Raum betreffend. Von woher kommt die Stimme? Das weibliche Sprechen, das Unaussprechliches versucht und scheitert und damit eigentlich, wie Sie schreiben, zu einer unauthentischen Stimme wird? Deshalb die „zitierten“, der Wirklichkeit entwendeten Telefonprotokolle eines männlichen Sprechens, das uns gleichsam in Originalsprache vorführt, wie problemlos der kapitalistische Warentausch auf die weiblichen Körper zu übertragen ist. Potenzierte Entfremdung mithin. Der ökonomische Diskurs trifft sich in diesem Text buchstäblich mit dem sexuellen, was Elfriede Jelinek seit Beginn ihres Schreibens radikal zusammen denkt. Kein Metadiskurs, pures veröffentlichtes Sprechen über die Körper, allerdings transformiert in die szenische Künstlichkeit, die uns das Natürliche überhaupt erst erkennen lässt als Konstruiertes.  
Sie weisen auf etwas hin, das mich besonders interessiert und das Differenz von Sprache und Sprechen ganz und gar berührt, nämlich den Klang. Es ist also der gesprochene Text, der verlautbarte, durch die Stimme zum Klingen gebrachte Text, der einen Resonanzraum bildet. (Lautes Lesen der Jelinek-Texte ist jedenfalls zu empfehlen.) Ich muss an dieser Stelle die Inszenierung (Uraufführung, Burgtheater im Kasino, 2007) von Ruedi Häusermann, nennen, die – als „musikalische Durchquerung“ untertitelt – der Schauspielerin Sylvie Rohrer einen solchen Raum des Klangs zur Verfügung stellt. Hier wird die Stimme der Schauspielerin (kontrastierend zu jenen der Klaviere) in gebrochener Korrespondenz zu ihrer Haltung als Körper-Material so präsent und transparent, dass die Notwenigkeit des Atmens zum Thema avanciert. Das ist doppelt interessant als der Text in vielfacher Weise den Körper als Material verortet: gewiss auf sexueller, religiöser, ökonomischer Ebene. Und hier finde ich noch einen Diskurs erwähnenswert, den der Ekstase, wörtlich des Außer-sich-Seins. Jelinek kommt darauf in vielen Texten zu sprechen, hier ist es nicht das Ekstatische antiker Stoffe und Figuren, sondern gleichsam eine Versuchs-Anordnung dieses Zustands in Perspektive auf die „Liebe“. Ich finde hier Judith Butlers Hinweis auf die Vieldeutigkeit des Außer-sich-Seins von Interesse: „von einer Woge der Leidenschaft aus sich herausgetragen zu werden, aber auch vor Wut oder Schmerz außer sich zu sein“, „außer sich leben, sei es in sexueller Leidenschaft, emotionaler Trauer oder politischer Wut“.[3]
Um nochmals auf Ihre Frage nach der Differenz von Sprache und Sprechen zurückzukommen, möchte ich auf die poetischen Verfahren der theatralen Transformation verweisen, die der Sprache eine Stimme, einen Körper geben.

Betreff: Re:"Über Tiere"
Von:
Agnieszka Jezierska
Datum: 13.2.2017
An: Monika Meister

Liebe Kollegin,
über Ihre Antwort freue ich mich sehr, besonders die Frage der szenischen Umsetzung fesselt meine Aufmerksamkeit. Ja, der Ort des Sprechens ist in Jelineks Texten besonders komplex, auch die SchauspielerInnen betonen, wie schwer es für sie ist, die Quelle der Stimme zu deuten, denn der Duktus ändert sich (sogar mehrmals) mitten im Satz, in einem kurzen Satz/kurzer Passage gibt es diametral unterschiedliche Sprechinstanzen, Diskurse sind vermischt, die sprachlichen Brosamen müssen zuerst auf ihre Herkunft hin geprüft werden – neulich haben das u.a. polnische SchauspielerInnen nach einer performativen Lesung von Rechnitz (Nowy Teatr, Warszawa, Februar 2017) bemerkt.
Ihre Überzeugung, es lohnt sich Jelinek-Texte laut zu lesen, überzeugt mich vollkommen, das ist auch meine Erfahrung. Schon die Inszenierung als Hörspiel verleiht den neueren Jelinek-Texten eine andere Dimension, denn erst beim Hören werden manche Anspielungen verständlich und Wiederholungen entfalten ihre tranceartige Wirkung. Auch die Gedankensprünge zwischen Religion, Privatheit, Ökonomie usw. prallen stärker aufeinander als in geschriebener Form, denn beim Hören irritiert die Künstlichkeit und Monströsität des Gesagten und der Abstand zur Alltagssprache (wie Sie es formuliert haben: das Natürliche als Konstruiertes). Über Tiere funktioniert anders als z.B. Nora, wo Kalauer und Bonmots auch auf Papier ihren Witz entfalten (das Verhältnis zwischen Ökonomie und dem weiblichen Körper ist in den beiden Texten zum gewissen Grade ähnlich).
Was aber beim Hörspiel nicht zum Vorschein kommt, ist das Verhältnis zwischen Sprechen und Körper, das zu den wichtigen Merkmalen von Jelineks Oeuvre gehört.
Leider habe ich die Uraufführung im Burgtheater nur in Ausschnitten gesehen, dagegen kenne ich die polnische Uraufführung in der Regie von Łukasz Chotkowski in Teatr Polski Bydgoszcz (2007), in der überraschenderweise (bei einer Translation ist das eher eine Ausnahme) die Beziehung zwischen dem Sprechen und dem Körperlichen sehr gut zum Vorschein gekommen ist (es liegt z.T. an der Übersetzung, die von einer auf Theatertexte spezialisierten Übersetzerin, Karolina Bikont vorgelegt wurde). Chotkowski zeigte auf der Bühne nur Frauen, der Mann war nur als Stimme und in einem Video-Mitschnitt, nicht direkt als Körper anwesend. Chotkowski schlug ein Pendant zu der berühmten Sportstück-Szene vor: unterschiedlich gekleidete Frauen (22 Statistinnen im Alter von 16 bis 75 in ihrer Privatkleidung, dazu 5 Schauspielerinnen) haben im Chor das Wort „rżnąć“  (dt. „ficken“) geschrien, was eine ungewöhnliche Wirkung auf das Publikum hatte, die Chorstimme vibrierte in den Ohren noch mehrere Stunden nach dem Theaterbesuch. Es entstand eine Kluft zwischen Weiblichkeit in mehreren Schattierungen (das Aussehen der Statistinnen, professionelle Schauspielerinnen, dazu eine Bodybuilderin, die am Anfang der Aufführung anwesend war) und der einheitlichen weiblichen Stimme, die aber als unauthentisches weibliches Sprechen persifliert wurde: „ficken“ gehört in Über Tiere zur Sprache der Männer.  
Ich würde die These wagen, dass gerade die Musikalität von Jelineks Theatertexten die Übersetzung erlaubt (erleichtert?), denn der Klang ist nur zum Teil von linguistischen Mechanismen abhängig. Der Resonanzraum, den Sie genannt haben, ist mit dem Sprechen und der musikalischen Dimension, aber nicht direkt mit der Sprache verbunden. Denn obwohl diese Texte sehr intertextuell sind, entziehen sie sich nicht so sehr der Translation (wie z.B. die älteren Texte Jelineks), da die Dominante mit dem Klang verbunden ist.
Ich habe noch eine Randbemerkung: Die SchauspielerInnen als „Diskursträger“, wie Jelinek sie nennt, tragen eine schwere Last – das Körperliche kann nicht vom Sprechen getrennt werden, denn die Wortschwalle müssen artikuliert werden. Durch die enorme Anstrengung, die Jelineks Texte für SchauspielerInnen bedeuten, avanciert – wie Sie es schön in Bezug auf Über Tiere formuliert haben – „die Notwendigkeit des Atmens zum Thema.“ Ich glaube, diese Beobachtung lässt sich auch auf andere Texte übertragen: Einer der älteren Schauspieler, die an der szenischen Lesung von Rechnitz teilnahmen, verwies auf dieses Problem, und zwar: dass sein Körper beim Vorlesen fast versagte, und dass Jelineks Text mit Abstand die schwierigste sprachliche Herausforderung war, mit der er in seinem Berufsleben konfrontiert wurde. Dabei glaube ich nicht, dass die polnische Fassung (von einer berufsmäßigen Übersetzerin Monika Muskała) der Grund war, sondern die ineinander fließenden Sprachströme, die im polnischen Theater verwundern.
Mich würde interessieren, ob auch deutschsprachige (österreichische) SchauspielerInnen den Text ähnlich wahrnehmen, oder ob das an der unterschiedlichen Theatertradition liegt (trotz der Avantgarde am Theater, wie Grotowski oder Kantor rezipiert das Theater in Polen eher langsam die westliche – insbesondere die deutsche –, Schauspiel- und Theaterkunst; an den Schauspielschulen gilt noch das psychologische Paradigma als maßgebend).

Betreff: "Über Tiere"
Von: Monika Meister
Datum: 18.2.2017
An: Agnieszka Jezierska

Liebe Kollegin,
Dank für die interessanten Darlegungen zum Beispiel einer konkreten Aufführung, die ich und wir hier nicht kennen (zumindest die meisten von uns). Dieses „unauthentische“ weibliche Sprechen in der von Ihnen zitierten polnischen Inszenierung von Über Tiere scheint mir auf eine spezifische Struktur des weiblichen Sprechens (bei Jelinek) zu verweisen, das durch mehrfach überlagerte Schichten gekennzeichnet ist. Auch über das Bild des Rhizoms, also die flächige Wucherung (von Stimmen) als ästhetisches Verfahren ist nachzudenken. Oder wo zwischen Ekstase, Verzückung und Verstummen könnte die Stimme sonst anheben zu einem Sprechen? Der Text Über Tiere thematisiert diesen Nicht-Ort. 
Besonders spannend ist Ihre These bezüglich der Musikalität der Texte und deren Übersetzungspotential. Das kann ich sehr gut nachvollziehen, dass der Klang der Sprache und der Sprachmelodie nicht allein in - wie Sie schreiben - „linguistischen Mechanismen“ aufgeht. Es gibt ohne Zweifel eine andere Ebene, die in der Übersetzung zum Ausdruck kommen kann. Zudem eröffnet die performative Transformation des Textes eine nochmals andere Formation von auditiven und visuellen Ausdrucksformen, die allesamt nicht aufgehen in der logozentrischen Bedeutungsgenerierung. Dabei kommt der Komik, der Übertreibung und Verkehrung (auch des Sinns), wie sie die Groteske kennzeichnet, großer Stellenwert zu.

Samuel Beckett: Not I (1973). Introduced by Billie Whitelaw. marinchr/youtube (20.2.2017). Videostill

Samuel Becketts Not I (dt. Nicht-Ich) 1973 in London.

Der Körper und seine tendenzielle Nicht-Identität splittern sich in Funktionen auf: Geste, Bewegung, Tonfall, Intonation, Starre und Bewegung des Mundes, Atem. Wie Samuel Beckett in seinem Fernseh-Spiel Nicht-Ich ausschließlich den sprechenden Mund in Großaufnahme zeigt und in seinem Theaterstück Atem eine Choreographie eines Atemzuges in Szene setzt: Einatmen und Ausatmen – das sind auch theatrale Vorgeschichten zu Jelineks Konstruktion des Körpers, der sich zeigt und verweigert zugleich. Das Heben und Senken des Brustkorbs der Schauspielerin Sylvie Rohrer in Über Tiere (2007), das buchstäbliche Luft holen, das wir hier hörten und sahen, korrespondierte mit den Klavieren, die lautstark am Bühnen-Boden verschoben wurden und sich als Möbel Gehör verschafften. Korrespondieren heißt ja immer auch die Leerstellen sichtbar werden lassen.
In einem Gespräch mit Jelinek-Darstellerinnen und Darstellern vor einigen Jahren wurde unter anderem deutlich, wie sich bei aller Herausforderung des Sprechens so etwas wie ein körpergerechter Rhythmus bildet, der die Widerstände nicht nur zu integrieren vermag, sondern daraus das Phantasie-Potential schöpft. Das fand ich bemerkenswert. Ich denke, Jelineks Interesse am Theater liegt an diesen Strukturen des Experimentierens, des Zeigens und Auslassens, wie es nur die Bühne ermöglicht. Hier wird etwas sichtbar, eine Konstellation von Augenblick und Vergänglichkeit, die auch Jelineks Denken der Geschichte bestimmt. Die Toten sind nicht tot.

Betreff: Re:"Über Tiere"
Von:
Agnieszka Jezierska
Datum: 27.2.2017
An: Monika Meister

Liebe Kollegin,
das Bild des Rhizoms wäre wirklich eine zutreffende Charakteristik von Jelineks Oeuvre, wo sich Stimmen permanent vermehren, niemals einen Stillstand erreichen, was in den Texten für das Theater besonders spürbar ist. Die Paralogien, falschen Etymologien wirken auf mehreren sich gegenseitig überlagernden Ebenen: u.a. der intellektuellen und der akustischen, und dadurch wird die Performance sinnproduktiv (wie etwa bei Barthes). Der Nicht-Ort wird auch dadurch thematisiert, dass Über Tiere keinen archimedischen Punkt bietet, dagegen mit Phänomenen arbeitet, die einander gegenseitig aufzuheben und jedes für sich einen Raum zu gewinnen versuchen. Ihren Gedanken: „Korrespondieren heißt ja immer auch die Leerstellen sichtbar werden lassen“ finde ich besonders spannend, denn nur so entfalten Jelineks Texte ihre unscharfen Bedeutungen, Mehrdeutigkeit; durch den clash, das gegenseitige Aufeinanderprallen. Eine Inszenierung kann das weiterführen, mit den von Ihnen genannten Mitteln.
Die von Ihnen erwähnte Komik und das Groteske gehören zu den eher ausgeblendeten Phänomenen bei Jelinek, die mehrmals betont hat, wie witzig ihr Schreiben ist und wie selten das wahrgenommen wird. Es nimmt natürlich nicht wunder, dass gerade diese Dimension ihres Schaffens nicht so oft zum Vorschein kommt: die ernsten ethischen und moralischen Themenbereiche, die sie behandelt, lassen sich nicht so einfach in Komik integrieren (ich möchte hier auf die Gastaufführung von Jossi Wielers Wolken.Heim. verweisen, die auch laut dem Regisseur witzig sein sollte, doch das verunsicherte polnische Publikum hat nur selten gelacht – einer der Gründe wäre das Thema). Doch indem die Texte auch diese Eigenschaften besitzen, wird der Resonanzraum, die Wahrnehmungsbreite viel größer – die Spannung zwischen der Botschaft des Textes und der Darbietungsweise wird besonders spürbar und engagiert stärker das kritische Potenzial des Publikums (klingt fast wie bei Brecht…).
Ich würde auch Ihrer These zustimmen, dass Jelineks Interesse am Theater durch die Möglichkeiten dieses Mediums motiviert ist, ihre neueren Theatertexte bzw. Sprachflächen sich immer stärker von ihren Prosatexten und Essays unterscheiden, wobei ich den nicht szenischen Texten Jelineks das Inszenierungspotential nicht absprechen will, doch die Widersprüche, die Sie nennen (Zeigen vs. Auslassen, Augenblick vs. Vergänglichkeit) bringen zu einer erhöhten szenischen Dynamik bei. Jelinek, nach ihren eigenen Worten, wird immer experimenteller, ich verstehe das auch als eine Recherche an dem Potential des jeweiligen Mediums. Das Theater bietet dank der Vielschichtigkeit der Techniken, der Arbeitsmethoden, der vielen Wahrnehmungskanäle, unvergleichbare Möglichkeiten im Unterschied zu Lesetexten.
Ich möchte auch auf den Text verweisen, den Jelinek zu Valie Exports Performancefilm I turn over the pictures of my voice in my head 2009 verfasst hat (Ungeduldetes, ungeduldiges Sichverschließen (ach, Stimme!)): wo die körperliche bzw. mechanische Dimension der Stimme im Zusammenhang mit der kulturellen Bedeutung der weiblichen (Nicht-)Sprache/des (Nicht-)Sprechens analysiert wird. Vielleicht korrespondiert das mit der akustischen und physischen Schicht der Aufführungen.

  • Agnieszka Jezierska Studium der Germanistik und Polonistik in Warschau, Dr. phil.; wissenschaftliche Assistentin am Institut für Germanistik der Universität Warschau. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie, deutsch-polnischer Literaturtransfer, Translationswissenschaften, Elfriede Jelinek. Dissertation zur Bedeutungsverdichtung in Elfriede Jelineks Prosa. Arbeitet als Lektorin und Gutachterin für verschiedene polnische Verlagshäuser. 
  • Monika Meister Studium der Theaterwissenschaft, Ethnologie und Philosphie in Wien. Seit 1992 Universitätsdozentin am Institut für Theater-, Film-, und Medienwissenschaften der Universität Wien. Vorlesungen, Publikationen und Vorträge zur Geschichte und Theorie des Theaters, vielfältige Jurytätigkeit, Rezensionen, Beiträge für Schauspielführer. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums, seit 2013 Stellvertretende Leiterin der Forschungsplattform Elfriede Jelinek

Anmerkungen


[1] Jelinek, Elfriede: Über Tiere. http://www.elfriedejelinek.com/ (16.1.2017), datiert mit 30.11.2005/6.11.2006 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2005, zu Politik und Gesellschaft).

[2] Erschienen unter dem Titel Jetzt dürfen die Menschen einmal aus ihren Kleidern heraus auf Elfriede Jelineks Website: http://www.elfriedejelinek.com/ (17.1.2017), datiert mit 2013 / 26.6.2014 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2014, Theatertexte).

[3] Butler, Judith: Gewalt, Trauer, Politik. In: Butler, Judith: Gefährdetes Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 36-69, S. 41.